Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.Der Goldauer Bergsturz. niedergeworfen und hat endlich das Gefühl, als ob sie in einenendlosen Abgrund stürze; die Besinnung verläßt sie. Als sie wie¬ der zu sich kommt, vermag sie nicht sich zu rühren noch zu regen und fühlt, daß sie wie eingemauert, rings von kaltem, nassem Schlamm umgeben, auf dem Kopfe steht. Nur das Gesicht ist ihr frei, so daß sie athmen kann. Da wähnt sie, der Untergang der Welt sei eingetreten, alles Lebende vernichtet und sie allein in Mitte des Erdballes, in ihrem Grabe das einzige noch lebende Wesen. So, in tödtlicher Angst betend, hört sie eine weinerliche Stimme, immer lauter werdendes Wimmern; sie ruft, fragt und erkennt an der Antwort, daß es die kleine Marianne ist, von wel¬ cher das Stöhnen herrührt. Trotz der gräßlichen Lage, fühlt sie sich hoch entzückt, noch ein lebendes Wesen, und dazu ein ge¬ liebtes, in ihrer Nähe zu wissen. Gespräch und Austausch der Mittheilungen beginnen. Marianneli erzählt, daß es zwischen Ge¬ sträuch und Balken auf dem Rücken liege, sich nicht rühren könne, aber durch einen schmalen Streifen der Finsterniß ins Grüne blicken könne. Die fromme Franziska hält es für eine Aussicht ins Paradies. Unter anhaltendem Gebet, Seufzen, Klagen und Weinen vergeht geraume Zeit. Da hören Beide die Töne einer Glocke. Es ist das friedliche Abendgeläute vom Steinerberge, die um 7 Uhr ertönende f. g. "Betglocke." Jetzt überzeugt sich Fran¬ ziska, daß der Welt Untergang noch nicht hereingebrochen sei, und leises Hoffen auf Rettung dämmert in ihrer Seele auf. Beide rufen um Hilfe, sie schreien, -- aber vergeblich! Todtenstille wie im Grabe herrscht rings in kalter Finsterniß. Jetzt taucht zum ersten Mal der folternde Gedanke: "Lebendig begraben!" in Fran¬ ziskas Seele auf. Aber sie muß ihn niederkämpfen, verbergen vor dem armen Kinde, um dessen Angst nicht noch zu vermehren. Sie hören das spätere "zu Nachtläuten" in Steinen und beten aufs Neue, ohne Unterbrechung, stundenlang; -- aber keine Errettung will sich zeigen. Nun empfindet das Kind auch stechende Schmer¬ Der Goldauer Bergſturz. niedergeworfen und hat endlich das Gefühl, als ob ſie in einenendloſen Abgrund ſtürze; die Beſinnung verläßt ſie. Als ſie wie¬ der zu ſich kommt, vermag ſie nicht ſich zu rühren noch zu regen und fühlt, daß ſie wie eingemauert, rings von kaltem, naſſem Schlamm umgeben, auf dem Kopfe ſteht. Nur das Geſicht iſt ihr frei, ſo daß ſie athmen kann. Da wähnt ſie, der Untergang der Welt ſei eingetreten, alles Lebende vernichtet und ſie allein in Mitte des Erdballes, in ihrem Grabe das einzige noch lebende Weſen. So, in tödtlicher Angſt betend, hört ſie eine weinerliche Stimme, immer lauter werdendes Wimmern; ſie ruft, fragt und erkennt an der Antwort, daß es die kleine Marianne iſt, von wel¬ cher das Stöhnen herrührt. Trotz der gräßlichen Lage, fühlt ſie ſich hoch entzückt, noch ein lebendes Weſen, und dazu ein ge¬ liebtes, in ihrer Nähe zu wiſſen. Geſpräch und Austauſch der Mittheilungen beginnen. Marianneli erzählt, daß es zwiſchen Ge¬ ſträuch und Balken auf dem Rücken liege, ſich nicht rühren könne, aber durch einen ſchmalen Streifen der Finſterniß ins Grüne blicken könne. Die fromme Franziska hält es für eine Ausſicht ins Paradies. Unter anhaltendem Gebet, Seufzen, Klagen und Weinen vergeht geraume Zeit. Da hören Beide die Töne einer Glocke. Es iſt das friedliche Abendgeläute vom Steinerberge, die um 7 Uhr ertönende f. g. „Betglocke.“ Jetzt überzeugt ſich Fran¬ ziska, daß der Welt Untergang noch nicht hereingebrochen ſei, und leiſes Hoffen auf Rettung dämmert in ihrer Seele auf. Beide rufen um Hilfe, ſie ſchreien, — aber vergeblich! Todtenſtille wie im Grabe herrſcht rings in kalter Finſterniß. Jetzt taucht zum erſten Mal der folternde Gedanke: „Lebendig begraben!“ in Fran¬ ziskas Seele auf. Aber ſie muß ihn niederkämpfen, verbergen vor dem armen Kinde, um deſſen Angſt nicht noch zu vermehren. Sie hören das ſpätere „zu Nachtläuten“ in Steinen und beten aufs Neue, ohne Unterbrechung, ſtundenlang; — aber keine Errettung will ſich zeigen. Nun empfindet das Kind auch ſtechende Schmer¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0080" n="60"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#fr #g">Der Goldauer Bergſturz</hi>.<lb/></fw> niedergeworfen und hat endlich das Gefühl, als ob ſie in einen<lb/> endloſen Abgrund ſtürze; die Beſinnung verläßt ſie. Als ſie wie¬<lb/> der zu ſich kommt, vermag ſie nicht ſich zu rühren noch zu regen<lb/> und fühlt, daß ſie wie eingemauert, rings von kaltem, naſſem<lb/> Schlamm umgeben, auf dem Kopfe ſteht. Nur das Geſicht iſt ihr<lb/> frei, ſo daß ſie athmen kann. Da wähnt ſie, der Untergang der<lb/> Welt ſei eingetreten, alles Lebende vernichtet und ſie allein in<lb/> Mitte des Erdballes, in ihrem Grabe das einzige noch lebende<lb/> Weſen. 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Der Goldauer Bergſturz.
niedergeworfen und hat endlich das Gefühl, als ob ſie in einen
endloſen Abgrund ſtürze; die Beſinnung verläßt ſie. Als ſie wie¬
der zu ſich kommt, vermag ſie nicht ſich zu rühren noch zu regen
und fühlt, daß ſie wie eingemauert, rings von kaltem, naſſem
Schlamm umgeben, auf dem Kopfe ſteht. Nur das Geſicht iſt ihr
frei, ſo daß ſie athmen kann. Da wähnt ſie, der Untergang der
Welt ſei eingetreten, alles Lebende vernichtet und ſie allein in
Mitte des Erdballes, in ihrem Grabe das einzige noch lebende
Weſen. So, in tödtlicher Angſt betend, hört ſie eine weinerliche
Stimme, immer lauter werdendes Wimmern; ſie ruft, fragt und
erkennt an der Antwort, daß es die kleine Marianne iſt, von wel¬
cher das Stöhnen herrührt. Trotz der gräßlichen Lage, fühlt ſie
ſich hoch entzückt, noch ein lebendes Weſen, und dazu ein ge¬
liebtes, in ihrer Nähe zu wiſſen. Geſpräch und Austauſch der
Mittheilungen beginnen. Marianneli erzählt, daß es zwiſchen Ge¬
ſträuch und Balken auf dem Rücken liege, ſich nicht rühren könne,
aber durch einen ſchmalen Streifen der Finſterniß ins Grüne
blicken könne. Die fromme Franziska hält es für eine Ausſicht
ins Paradies. Unter anhaltendem Gebet, Seufzen, Klagen und
Weinen vergeht geraume Zeit. Da hören Beide die Töne einer
Glocke. Es iſt das friedliche Abendgeläute vom Steinerberge, die
um 7 Uhr ertönende f. g. „Betglocke.“ Jetzt überzeugt ſich Fran¬
ziska, daß der Welt Untergang noch nicht hereingebrochen ſei, und
leiſes Hoffen auf Rettung dämmert in ihrer Seele auf. Beide
rufen um Hilfe, ſie ſchreien, — aber vergeblich! Todtenſtille wie
im Grabe herrſcht rings in kalter Finſterniß. Jetzt taucht zum
erſten Mal der folternde Gedanke: „Lebendig begraben!“ in Fran¬
ziskas Seele auf. Aber ſie muß ihn niederkämpfen, verbergen vor
dem armen Kinde, um deſſen Angſt nicht noch zu vermehren. Sie
hören das ſpätere „zu Nachtläuten“ in Steinen und beten aufs
Neue, ohne Unterbrechung, ſtundenlang; — aber keine Errettung
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