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Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

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Der Bannwald.
jährigen Bäume war einst Zeuge der Großthaten, welche heute die
Sage verherrlichet.

Die Bezeichnung "Urwald" hat durch fremde Reisebeschrei¬
bungen eine so ausgeprägte Begriffsgränze bekommen, daß unsere
Phantasie unwillkürlich einen Gedankensprung über den Ocean
macht. Es läßt sich aber ein Vergleich mit dem amerikanischen
Urwalde nur insofern aufstellen, als man damit den jungfräuli¬
chen Urnaturzustand des von der menschlichen Kulturhand noch un¬
berührten Alpenwaldes bezeichnen will; dieser ist das einzige, bei¬
den eigenthümliche charakteristische Merkmal. In allen anderen
Beziehungen beruhen sie auf den entschiedensten Gegensätzen.

Der tropische Urwald zeigt einen unermeßlichen Reichthum
von Pflanzenformen in den feurigsten und prangendsten Farben,
eine so unerschöpfliche Individuenzahl, daß der Bodenraum von
geringem Umfang dem Naturforscher Ausbeute, Beschäftigung und
Studienstoff für lange Zeiten bietet. -- Der Alpenurwald da¬
gegen ist einförmig, anspruchslos; verhältnißmäßig nur wenige
Charakterpflanzen bilden die Elemente seiner Zusammensetzung.
Aber auch diese bieten in ihren normalen Körperformen wiederum
nichts Auffallendes, Fremdartiges dar. Noch weniger prangt der
Alpenwald in anziehendem Farbenschmucke; dunkeles, ernstes Ko¬
lorit ist allenthalben über ihn ausgegossen und nur gebrochene,
trübe Tinten schleichen scheu ineinander über. -- Vergleicht man
dann vollends das biologische Moment beider, so giebt uns der
amerikanische Urwald ein vollendetes Bild des üppigsten, unver¬
wüstlichsten, siegreichen Lebens, eine Verherrlichung der vegetabi¬
lischen Wiedergeburt; er ist ein ununterbrochener Jubel der Auf¬
erstehung, das immerwährende Osterfest im Pflanzenreiche; überall
verbirgt sich der Akt der Auflösung unter der reichen, überwuchern¬
den Blätterfülle des jungen schimmernden Nachwuchses, und die
Seligkeit ewiger Jugend scheint hier zu herrschen. Der Alpen¬
urwald ist ein stiller Todtenacker, eine jener trüben, finsteren Ver¬

Der Bannwald.
jährigen Bäume war einſt Zeuge der Großthaten, welche heute die
Sage verherrlichet.

Die Bezeichnung „Urwald“ hat durch fremde Reiſebeſchrei¬
bungen eine ſo ausgeprägte Begriffsgränze bekommen, daß unſere
Phantaſie unwillkürlich einen Gedankenſprung über den Ocean
macht. Es läßt ſich aber ein Vergleich mit dem amerikaniſchen
Urwalde nur inſofern aufſtellen, als man damit den jungfräuli¬
chen Urnaturzuſtand des von der menſchlichen Kulturhand noch un¬
berührten Alpenwaldes bezeichnen will; dieſer iſt das einzige, bei¬
den eigenthümliche charakteriſtiſche Merkmal. In allen anderen
Beziehungen beruhen ſie auf den entſchiedenſten Gegenſätzen.

Der tropiſche Urwald zeigt einen unermeßlichen Reichthum
von Pflanzenformen in den feurigſten und prangendſten Farben,
eine ſo unerſchöpfliche Individuenzahl, daß der Bodenraum von
geringem Umfang dem Naturforſcher Ausbeute, Beſchäftigung und
Studienſtoff für lange Zeiten bietet. — Der Alpenurwald da¬
gegen iſt einförmig, anſpruchslos; verhältnißmäßig nur wenige
Charakterpflanzen bilden die Elemente ſeiner Zuſammenſetzung.
Aber auch dieſe bieten in ihren normalen Körperformen wiederum
nichts Auffallendes, Fremdartiges dar. Noch weniger prangt der
Alpenwald in anziehendem Farbenſchmucke; dunkeles, ernſtes Ko¬
lorit iſt allenthalben über ihn ausgegoſſen und nur gebrochene,
trübe Tinten ſchleichen ſcheu ineinander über. — Vergleicht man
dann vollends das biologiſche Moment beider, ſo giebt uns der
amerikaniſche Urwald ein vollendetes Bild des üppigſten, unver¬
wüſtlichſten, ſiegreichen Lebens, eine Verherrlichung der vegetabi¬
liſchen Wiedergeburt; er iſt ein ununterbrochener Jubel der Auf¬
erſtehung, das immerwährende Oſterfeſt im Pflanzenreiche; überall
verbirgt ſich der Akt der Auflöſung unter der reichen, überwuchern¬
den Blätterfülle des jungen ſchimmernden Nachwuchſes, und die
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[66/0088] Der Bannwald. jährigen Bäume war einſt Zeuge der Großthaten, welche heute die Sage verherrlichet. Die Bezeichnung „Urwald“ hat durch fremde Reiſebeſchrei¬ bungen eine ſo ausgeprägte Begriffsgränze bekommen, daß unſere Phantaſie unwillkürlich einen Gedankenſprung über den Ocean macht. Es läßt ſich aber ein Vergleich mit dem amerikaniſchen Urwalde nur inſofern aufſtellen, als man damit den jungfräuli¬ chen Urnaturzuſtand des von der menſchlichen Kulturhand noch un¬ berührten Alpenwaldes bezeichnen will; dieſer iſt das einzige, bei¬ den eigenthümliche charakteriſtiſche Merkmal. In allen anderen Beziehungen beruhen ſie auf den entſchiedenſten Gegenſätzen. Der tropiſche Urwald zeigt einen unermeßlichen Reichthum von Pflanzenformen in den feurigſten und prangendſten Farben, eine ſo unerſchöpfliche Individuenzahl, daß der Bodenraum von geringem Umfang dem Naturforſcher Ausbeute, Beſchäftigung und Studienſtoff für lange Zeiten bietet. — Der Alpenurwald da¬ gegen iſt einförmig, anſpruchslos; verhältnißmäßig nur wenige Charakterpflanzen bilden die Elemente ſeiner Zuſammenſetzung. Aber auch dieſe bieten in ihren normalen Körperformen wiederum nichts Auffallendes, Fremdartiges dar. Noch weniger prangt der Alpenwald in anziehendem Farbenſchmucke; dunkeles, ernſtes Ko¬ lorit iſt allenthalben über ihn ausgegoſſen und nur gebrochene, trübe Tinten ſchleichen ſcheu ineinander über. — Vergleicht man dann vollends das biologiſche Moment beider, ſo giebt uns der amerikaniſche Urwald ein vollendetes Bild des üppigſten, unver¬ wüſtlichſten, ſiegreichen Lebens, eine Verherrlichung der vegetabi¬ liſchen Wiedergeburt; er iſt ein ununterbrochener Jubel der Auf¬ erſtehung, das immerwährende Oſterfeſt im Pflanzenreiche; überall verbirgt ſich der Akt der Auflöſung unter der reichen, überwuchern¬ den Blätterfülle des jungen ſchimmernden Nachwuchſes, und die Seligkeit ewiger Jugend ſcheint hier zu herrſchen. Der Alpen¬ urwald iſt ein ſtiller Todtenacker, eine jener trüben, finſteren Ver¬

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Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/88>, abgerufen am 24.11.2024.