Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.Der Bannwald. endet in einer wilden unbetretenen Waldung oder in einer jähgegen den Gebirgskamm ansteigenden, öden, aller Vegetation ent¬ blößten, trümmerbedeckten Rüfe oder Runse. Es ist ein uralt deut¬ sches Wort, das schon in Notkers Psalmen vorkommt. Im Kant. Bern nennt mans "Krachen", in den französischen Bergen "Gorge". In diese wüsten, unheimlichen Tobel verlegt der Volksglaube den Aufenthalt böser Geister und gespenstischer Unholde. Die Be¬ wohner der Umgegend von Bellinzona lassen im Sementina-Tobel die Seelen der Geizhälse, ungerechten Vormünder und Wucherer schmachten; der Lenker schreibt die Schlamm-Ergüsse und Verhee¬ rungen, welche aus der Jllhorn-Schlucht hervorbrechen, dorthin verbannten Verfluchten zu; vom Skalära-Tobel weiß der Stadt- Churer viel ungeheuerliche Sagen von polternden Dämonen, "Heerdmandli und Mooswybli" zu erzählen, -- und das s. g. Enziloch unterm aussichtreichen Napf im Entlibuch gilt ausschlie߬ lich als die Heimath abgeschiedener reicher Blutsauger und Arme¬ Leute-Bedrücker; gemeiniglich werden sie nur die Thalherren ge¬ nannt, und wenn Nachts der Sturm die Schlucht durchheult, daß die Tannen krachen und Felsenblöcke prasselnd in die Tiefe stürzen, so sagt das Volk: "es zieht ein neuer Thalherr ein!" -- An sol¬ chen Tobeln sind alle großen Alpenthäler sehr reich, ganz beson¬ ders aber die Graubündner Thalschaften Prätigau, Davos, Schanfigg, Unterengadin und Border-Rheinthal -- das Wallis und Tessin. Gewöhnlich läuft der dieselben durchziehende Fußweg (wenn ein solcher vorhanden ist), in großen Krümmungen, der Grund-Disposition des Tobels folgend, auf halber Höhe hin, buch¬ tet häufig weit zur Seite ein, sekundäre, tobelähnliche Mündungen umgehend, und senkt sich nur dann in steilem, holperigem, von kahlgelegten Wurzeln durchflochtenem Pfade zur Schluchtentiefe nieder, wenn er das Tobel durchschneiden muß. Auch hier hat die Einsamkeit, aber wieder in ganz anderer Der Bannwald. endet in einer wilden unbetretenen Waldung oder in einer jähgegen den Gebirgskamm anſteigenden, öden, aller Vegetation ent¬ blößten, trümmerbedeckten Rüfe oder Runſe. Es iſt ein uralt deut¬ ſches Wort, das ſchon in Notkers Pſalmen vorkommt. Im Kant. Bern nennt mans „Krachen“, in den franzöſiſchen Bergen „Gorge“. In dieſe wüſten, unheimlichen Tobel verlegt der Volksglaube den Aufenthalt böſer Geiſter und geſpenſtiſcher Unholde. Die Be¬ wohner der Umgegend von Bellinzona laſſen im Sementina-Tobel die Seelen der Geizhälſe, ungerechten Vormünder und Wucherer ſchmachten; der Lenker ſchreibt die Schlamm-Ergüſſe und Verhee¬ rungen, welche aus der Jllhorn-Schlucht hervorbrechen, dorthin verbannten Verfluchten zu; vom Skalära-Tobel weiß der Stadt- Churer viel ungeheuerliche Sagen von polternden Dämonen, „Heerdmandli und Mooswybli“ zu erzählen, — und das ſ. g. Enziloch unterm ausſichtreichen Napf im Entlibuch gilt ausſchlie߬ lich als die Heimath abgeſchiedener reicher Blutſauger und Arme¬ Leute-Bedrücker; gemeiniglich werden ſie nur die Thalherren ge¬ nannt, und wenn Nachts der Sturm die Schlucht durchheult, daß die Tannen krachen und Felſenblöcke praſſelnd in die Tiefe ſtürzen, ſo ſagt das Volk: „es zieht ein neuer Thalherr ein!“ — An ſol¬ chen Tobeln ſind alle großen Alpenthäler ſehr reich, ganz beſon¬ ders aber die Graubündner Thalſchaften Prätigau, Davos, Schanfigg, Unterengadin und Border-Rheinthal — das Wallis und Teſſin. Gewöhnlich läuft der dieſelben durchziehende Fußweg (wenn ein ſolcher vorhanden iſt), in großen Krümmungen, der Grund-Dispoſition des Tobels folgend, auf halber Höhe hin, buch¬ tet häufig weit zur Seite ein, ſekundäre, tobelähnliche Mündungen umgehend, und ſenkt ſich nur dann in ſteilem, holperigem, von kahlgelegten Wurzeln durchflochtenem Pfade zur Schluchtentiefe nieder, wenn er das Tobel durchſchneiden muß. 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Der Bannwald.
endet in einer wilden unbetretenen Waldung oder in einer jäh
gegen den Gebirgskamm anſteigenden, öden, aller Vegetation ent¬
blößten, trümmerbedeckten Rüfe oder Runſe. Es iſt ein uralt deut¬
ſches Wort, das ſchon in Notkers Pſalmen vorkommt. Im Kant.
Bern nennt mans „Krachen“, in den franzöſiſchen Bergen „Gorge“.
In dieſe wüſten, unheimlichen Tobel verlegt der Volksglaube den
Aufenthalt böſer Geiſter und geſpenſtiſcher Unholde. Die Be¬
wohner der Umgegend von Bellinzona laſſen im Sementina-Tobel
die Seelen der Geizhälſe, ungerechten Vormünder und Wucherer
ſchmachten; der Lenker ſchreibt die Schlamm-Ergüſſe und Verhee¬
rungen, welche aus der Jllhorn-Schlucht hervorbrechen, dorthin
verbannten Verfluchten zu; vom Skalära-Tobel weiß der Stadt-
Churer viel ungeheuerliche Sagen von polternden Dämonen,
„Heerdmandli und Mooswybli“ zu erzählen, — und das ſ. g.
Enziloch unterm ausſichtreichen Napf im Entlibuch gilt ausſchlie߬
lich als die Heimath abgeſchiedener reicher Blutſauger und Arme¬
Leute-Bedrücker; gemeiniglich werden ſie nur die Thalherren ge¬
nannt, und wenn Nachts der Sturm die Schlucht durchheult, daß
die Tannen krachen und Felſenblöcke praſſelnd in die Tiefe ſtürzen,
ſo ſagt das Volk: „es zieht ein neuer Thalherr ein!“ — An ſol¬
chen Tobeln ſind alle großen Alpenthäler ſehr reich, ganz beſon¬
ders aber die Graubündner Thalſchaften Prätigau, Davos,
Schanfigg, Unterengadin und Border-Rheinthal — das Wallis
und Teſſin. Gewöhnlich läuft der dieſelben durchziehende Fußweg
(wenn ein ſolcher vorhanden iſt), in großen Krümmungen, der
Grund-Dispoſition des Tobels folgend, auf halber Höhe hin, buch¬
tet häufig weit zur Seite ein, ſekundäre, tobelähnliche Mündungen
umgehend, und ſenkt ſich nur dann in ſteilem, holperigem, von
kahlgelegten Wurzeln durchflochtenem Pfade zur Schluchtentiefe
nieder, wenn er das Tobel durchſchneiden muß.
Auch hier hat die Einſamkeit, aber wieder in ganz anderer
Weiſe, ihre Stätte aufgeſchlagen. Es iſt hochromantiſche Wildniß,
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