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Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887.

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zweifeln, und der Schluss, dass die durch dieselbe bedingte,
wenn auch vorübergehende Nutritionstörung Gehirnbezirke
betheiligen musste, welche zu der Broca'schen Stelle
wenigstens in nahen functionellen Beziehungen standen,
ist anatomisch durchaus gerechtfertigt.

In unserem 4. Falle war die gesammte Hirnoberfläche
betheiligt, also jedenfalls auch die Broca'sche Stelle und
ihre Umgebung, während im Fall 5, welcher nicht zur
Section kam, die gleichzeitig mit der Dyslexie aufge-
tretenen rechtsseitigen Gesichtsmuskelzuckungen auf die
unmittelbare Nachbarschaft derselben, auf das Facialis-
centrum, deuteten.

Mit diesem Hinweis auf die Oertlichkeit der patho-
logisch-anatomischen Veränderungen, glaube ich mich be-
gnügen zu sollen: Es ist als ein entschieden positives
Resultat zu verzeichnen, dass in allen sechs zur
Obduction gekommenen Fällen anatomische Lä-
sionen in der linken Gehirnhemisphäre gefunden
wurden und zwar an solchen Stellen, welche in
der Nähe der 3. Stirnwinduug lagen.

Ob uns spätere Beobachtungen weiter führen, ob
sie etwa ein für die functionelle Topographie der Gehirn-
rinde in dem Sinne verwerthbares Material zu Tage
fördern werden, dass man von einem wirklichen "Lese-
centrum" im anatomischen Sinne wird sprechen dürfen,
das müssen wir vorläufig dahingestellt sein lassen. Immer-
hin ist man, wie auch die Antwort ausfallen mag, be-
rechtigt, in dieser Richtung weiter zu forschen.

Ich für mein Theil bin der Meinung, dass bei Jedem
von uns diejenige psychische Thätigkeit, welche in der
Umsetzung der gesehenen Schriftzeichen im Begriffe und
dieser wiederum in gesprochene oder geschriebene Worte
besteht, in Folge von Einübung an eine bestimmte Region
der Gehirnrinde gebunden ist. In diesem Sinne, glaube
ich, besitzt Jedermann sein individuelles Lesecentrum.

zweifeln, und der Schluss, dass die durch dieselbe bedingte,
wenn auch vorübergehende Nutritionstörung Gehirnbezirke
betheiligen musste, welche zu der Broca’schen Stelle
wenigstens in nahen functionellen Beziehungen standen,
ist anatomisch durchaus gerechtfertigt.

In unserem 4. Falle war die gesammte Hirnoberfläche
betheiligt, also jedenfalls auch die Broca’sche Stelle und
ihre Umgebung, während im Fall 5, welcher nicht zur
Section kam, die gleichzeitig mit der Dyslexie aufge-
tretenen rechtsseitigen Gesichtsmuskelzuckungen auf die
unmittelbare Nachbarschaft derselben, auf das Facialis-
centrum, deuteten.

Mit diesem Hinweis auf die Oertlichkeit der patho-
logisch-anatomischen Veränderungen, glaube ich mich be-
gnügen zu sollen: Es ist als ein entschieden positives
Resultat zu verzeichnen, dass in allen sechs zur
Obduction gekommenen Fällen anatomische Lä-
sionen in der linken Gehirnhemisphäre gefunden
wurden und zwar an solchen Stellen, welche in
der Nähe der 3. Stirnwinduug lagen.

Ob uns spätere Beobachtungen weiter führen, ob
sie etwa ein für die functionelle Topographie der Gehirn-
rinde in dem Sinne verwerthbares Material zu Tage
fördern werden, dass man von einem wirklichen „Lese-
centrum“ im anatomischen Sinne wird sprechen dürfen,
das müssen wir vorläufig dahingestellt sein lassen. Immer-
hin ist man, wie auch die Antwort ausfallen mag, be-
rechtigt, in dieser Richtung weiter zu forschen.

Ich für mein Theil bin der Meinung, dass bei Jedem
von uns diejenige psychische Thätigkeit, welche in der
Umsetzung der gesehenen Schriftzeichen im Begriffe und
dieser wiederum in gesprochene oder geschriebene Worte
besteht, in Folge von Einübung an eine bestimmte Region
der Gehirnrinde gebunden ist. In diesem Sinne, glaube
ich, besitzt Jedermann sein individuelles Lesecentrum.

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[63/0067] zweifeln, und der Schluss, dass die durch dieselbe bedingte, wenn auch vorübergehende Nutritionstörung Gehirnbezirke betheiligen musste, welche zu der Broca’schen Stelle wenigstens in nahen functionellen Beziehungen standen, ist anatomisch durchaus gerechtfertigt. In unserem 4. Falle war die gesammte Hirnoberfläche betheiligt, also jedenfalls auch die Broca’sche Stelle und ihre Umgebung, während im Fall 5, welcher nicht zur Section kam, die gleichzeitig mit der Dyslexie aufge- tretenen rechtsseitigen Gesichtsmuskelzuckungen auf die unmittelbare Nachbarschaft derselben, auf das Facialis- centrum, deuteten. Mit diesem Hinweis auf die Oertlichkeit der patho- logisch-anatomischen Veränderungen, glaube ich mich be- gnügen zu sollen: Es ist als ein entschieden positives Resultat zu verzeichnen, dass in allen sechs zur Obduction gekommenen Fällen anatomische Lä- sionen in der linken Gehirnhemisphäre gefunden wurden und zwar an solchen Stellen, welche in der Nähe der 3. Stirnwinduug lagen. Ob uns spätere Beobachtungen weiter führen, ob sie etwa ein für die functionelle Topographie der Gehirn- rinde in dem Sinne verwerthbares Material zu Tage fördern werden, dass man von einem wirklichen „Lese- centrum“ im anatomischen Sinne wird sprechen dürfen, das müssen wir vorläufig dahingestellt sein lassen. Immer- hin ist man, wie auch die Antwort ausfallen mag, be- rechtigt, in dieser Richtung weiter zu forschen. Ich für mein Theil bin der Meinung, dass bei Jedem von uns diejenige psychische Thätigkeit, welche in der Umsetzung der gesehenen Schriftzeichen im Begriffe und dieser wiederum in gesprochene oder geschriebene Worte besteht, in Folge von Einübung an eine bestimmte Region der Gehirnrinde gebunden ist. In diesem Sinne, glaube ich, besitzt Jedermann sein individuelles Lesecentrum.

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Zitationshilfe: Berlin, Rudolf: Eine besondere Art der Wortblindheit (Dyslexie). Wiesbaden, 1887, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlin_wortblindheit_1887/67>, abgerufen am 28.04.2024.