Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. Leipzig, 1738.

Bild:
<< vorherige Seite

daß schwache Gemüther
aus dem obangeführten auflösen. Hierher ge-
höret auch die Magd, welche Malebranche in
seinem Tractate: de inquirenda veritate, in
dem Capitel von der Imagination anführet.
Diese hatte bey einem Balbier etwas auszurich-
ten; und, da sie vielleicht selbst noch nicht zur Ader
gelassen hatte, siehet sie einem Manne am Fuße
zur Ader lassen. Beym Anblicke des Fußes
des Mannes kriegt sie auch das Bild von ihrem
Fuße, und von dem Orte, an welchem dem
Manne zur Ader gelassen worden. Sie ima-
gini
ret das Ubel so starck, daß, da sie nach Hause
kommt, ihr es an ihrem Fuße anfängt wehe zu
thun, an welchem sie dem Manne hatte sehen
zur Ader lassen. Denn auch dieses ist der
Weisheit GOttes zuzuschreiben, daß wir das
Ubel, was einem andern begegnet, oder was
wir vor ein Ubel bey einem andern halten, uns
imaginiren und vorstellen können, als ob es un-
ser eigen wäre, und als ob uns selbst am Leibe
wiederführe, was wir dem Nächsten wiederfah-
ren sehen; damit wir zum Mitleiden, und
dem Nechsten zu helffen sollen bewogen werden.
Ein schwanger Weib siehet einen aufs längste
rädern. Wie sie den einen Arm des armen
Sünders mit dem Rade siehet zerschmettern, so
kan sie nicht mehr hinsehen. Wie sie das Kind
zur Welt bringet, so ist der eine Arm des Kindes

zerbro-

daß ſchwache Gemuͤther
aus dem obangefuͤhrten aufloͤſen. Hierher ge-
hoͤret auch die Magd, welche Malebranche in
ſeinem Tractate: de inquirenda veritate, in
dem Capitel von der Imagination anfuͤhret.
Dieſe hatte bey einem Balbier etwas auszurich-
ten; und, da ſie vielleicht ſelbſt noch nicht zur Ader
gelaſſen hatte, ſiehet ſie einem Manne am Fuße
zur Ader laſſen. Beym Anblicke des Fußes
des Mannes kriegt ſie auch das Bild von ihrem
Fuße, und von dem Orte, an welchem dem
Manne zur Ader gelaſſen worden. Sie ima-
gini
ret das Ubel ſo ſtarck, daß, da ſie nach Hauſe
kommt, ihr es an ihrem Fuße anfaͤngt wehe zu
thun, an welchem ſie dem Manne hatte ſehen
zur Ader laſſen. Denn auch dieſes iſt der
Weisheit GOttes zuzuſchreiben, daß wir das
Ubel, was einem andern begegnet, oder was
wir vor ein Ubel bey einem andern halten, uns
imaginiren und vorſtellen koͤnnen, als ob es un-
ſer eigen waͤre, und als ob uns ſelbſt am Leibe
wiederfuͤhre, was wir dem Naͤchſten wiederfah-
ren ſehen; damit wir zum Mitleiden, und
dem Nechſten zu helffen ſollen bewogen werden.
Ein ſchwanger Weib ſiehet einen aufs laͤngſte
raͤdern. Wie ſie den einen Arm des armen
Suͤnders mit dem Rade ſiehet zerſchmettern, ſo
kan ſie nicht mehr hinſehen. Wie ſie das Kind
zur Welt bringet, ſo iſt der eine Arm des Kindes

zerbro-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0328" n="282"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">daß &#x017F;chwache Gemu&#x0364;ther</hi></fw><lb/>
aus dem obangefu&#x0364;hrten auflo&#x0364;&#x017F;en. Hierher ge-<lb/>
ho&#x0364;ret auch die Magd, welche <hi rendition="#aq">Malebranche</hi> in<lb/>
&#x017F;einem <hi rendition="#aq">Tractat</hi>e: <hi rendition="#aq">de inquirenda veritate,</hi> in<lb/>
dem Capitel von der <hi rendition="#aq">Imagination</hi> anfu&#x0364;hret.<lb/>
Die&#x017F;e hatte bey einem Balbier etwas auszurich-<lb/>
ten; und, da &#x017F;ie vielleicht &#x017F;elb&#x017F;t noch nicht zur Ader<lb/>
gela&#x017F;&#x017F;en hatte, &#x017F;iehet &#x017F;ie einem Manne am Fuße<lb/>
zur Ader la&#x017F;&#x017F;en. Beym Anblicke des Fußes<lb/>
des Mannes kriegt &#x017F;ie auch das Bild von ihrem<lb/>
Fuße, und von dem Orte, an welchem dem<lb/>
Manne zur Ader gela&#x017F;&#x017F;en worden. Sie <hi rendition="#aq">ima-<lb/>
gini</hi>ret das Ubel &#x017F;o &#x017F;tarck, daß, da &#x017F;ie nach Hau&#x017F;e<lb/>
kommt, ihr es an ihrem Fuße anfa&#x0364;ngt wehe zu<lb/>
thun, an welchem &#x017F;ie dem Manne hatte &#x017F;ehen<lb/>
zur Ader la&#x017F;&#x017F;en. Denn auch die&#x017F;es i&#x017F;t der<lb/>
Weisheit GOttes zuzu&#x017F;chreiben, daß wir das<lb/>
Ubel, was einem andern begegnet, oder was<lb/>
wir vor ein Ubel bey einem andern halten, uns<lb/><hi rendition="#aq">imagini</hi>ren und vor&#x017F;tellen ko&#x0364;nnen, als ob es un-<lb/>
&#x017F;er eigen wa&#x0364;re, und als ob uns &#x017F;elb&#x017F;t am Leibe<lb/>
wiederfu&#x0364;hre, was wir dem Na&#x0364;ch&#x017F;ten wiederfah-<lb/>
ren &#x017F;ehen; damit wir zum Mitleiden, und<lb/>
dem Nech&#x017F;ten zu helffen &#x017F;ollen bewogen werden.<lb/>
Ein &#x017F;chwanger Weib &#x017F;iehet einen aufs la&#x0364;ng&#x017F;te<lb/>
ra&#x0364;dern. Wie &#x017F;ie den einen Arm des armen<lb/>
Su&#x0364;nders mit dem Rade &#x017F;iehet zer&#x017F;chmettern, &#x017F;o<lb/>
kan &#x017F;ie nicht mehr hin&#x017F;ehen. Wie &#x017F;ie das Kind<lb/>
zur Welt bringet, &#x017F;o i&#x017F;t der eine Arm des Kindes<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">zerbro-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[282/0328] daß ſchwache Gemuͤther aus dem obangefuͤhrten aufloͤſen. Hierher ge- hoͤret auch die Magd, welche Malebranche in ſeinem Tractate: de inquirenda veritate, in dem Capitel von der Imagination anfuͤhret. Dieſe hatte bey einem Balbier etwas auszurich- ten; und, da ſie vielleicht ſelbſt noch nicht zur Ader gelaſſen hatte, ſiehet ſie einem Manne am Fuße zur Ader laſſen. Beym Anblicke des Fußes des Mannes kriegt ſie auch das Bild von ihrem Fuße, und von dem Orte, an welchem dem Manne zur Ader gelaſſen worden. Sie ima- giniret das Ubel ſo ſtarck, daß, da ſie nach Hauſe kommt, ihr es an ihrem Fuße anfaͤngt wehe zu thun, an welchem ſie dem Manne hatte ſehen zur Ader laſſen. Denn auch dieſes iſt der Weisheit GOttes zuzuſchreiben, daß wir das Ubel, was einem andern begegnet, oder was wir vor ein Ubel bey einem andern halten, uns imaginiren und vorſtellen koͤnnen, als ob es un- ſer eigen waͤre, und als ob uns ſelbſt am Leibe wiederfuͤhre, was wir dem Naͤchſten wiederfah- ren ſehen; damit wir zum Mitleiden, und dem Nechſten zu helffen ſollen bewogen werden. Ein ſchwanger Weib ſiehet einen aufs laͤngſte raͤdern. Wie ſie den einen Arm des armen Suͤnders mit dem Rade ſiehet zerſchmettern, ſo kan ſie nicht mehr hinſehen. Wie ſie das Kind zur Welt bringet, ſo iſt der eine Arm des Kindes zerbro-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bernd_lebensbeschreibung_1738
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bernd_lebensbeschreibung_1738/328
Zitationshilfe: Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. Leipzig, 1738, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bernd_lebensbeschreibung_1738/328>, abgerufen am 21.11.2024.