Ob nun wol bey den meisten die That des Selbst-Mords ohne Verstand vollbracht wird, so bin ich doch keinesweges gesonnen zu leugnen, daß nicht auch dann und wann einige Men- schen, so keine Melancholici sind, mit Ver- stand und Vorsatze zu dieser That schreiten sol- ten. So viel auch pure Atheisten im Tode einen GOtt zu glauben möchten anfangen, so halt ich doch, daß einer in seiner Atheisterey so verblendet werden könne, daß er solchen Jrr- thum stets behalte, und er folglich, weil er nach dieser Welt nichts glaubt, noch fürchtet, bey gewissen Umständen, der Ubel der Welt los zu werden, sich selbst mit Verstande tödten könne. Viel Gottlosen sind auch Atheisten, ohne daß sie es wissen. Sie glauben weder Hölle noch Himmel, noch jüngstes Gerichte, ob sie gleich keinen Actum reflexum ihres Un- glaubens haben; und also können sie aus De- speration bey zeitlichem Unglück leicht zur Au- tochirie sich entschließen. Wenn unter uns noch Stoici wären, welche die Autochirie vor die höchste Staffel der Tapfferkeit vor Zeiten hielten, so wolte ich sagen, daß auch diese kein groß Bedencken tragen würden, den Tod frey- willig zu erwehlen, den Seneca und Soerates
gezwun-
und mit Exempeln,
§. 75.
Ob nun wol bey den meiſten die That des Selbſt-Mords ohne Verſtand vollbracht wird, ſo bin ich doch keinesweges geſonnen zu leugnen, daß nicht auch dann und wann einige Men- ſchen, ſo keine Melancholici ſind, mit Ver- ſtand und Vorſatze zu dieſer That ſchreiten ſol- ten. So viel auch pure Atheiſten im Tode einen GOtt zu glauben moͤchten anfangen, ſo halt ich doch, daß einer in ſeiner Atheiſterey ſo verblendet werden koͤnne, daß er ſolchen Jrr- thum ſtets behalte, und er folglich, weil er nach dieſer Welt nichts glaubt, noch fuͤrchtet, bey gewiſſen Umſtaͤnden, der Ubel der Welt los zu werden, ſich ſelbſt mit Verſtande toͤdten koͤnne. Viel Gottloſen ſind auch Atheiſten, ohne daß ſie es wiſſen. Sie glauben weder Hoͤlle noch Himmel, noch juͤngſtes Gerichte, ob ſie gleich keinen Actum reflexum ihres Un- glaubens haben; und alſo koͤnnen ſie aus De- ſperation bey zeitlichem Ungluͤck leicht zur Au- tochirie ſich entſchließen. Wenn unter uns noch Stoici waͤren, welche die Autochirie vor die hoͤchſte Staffel der Tapfferkeit vor Zeiten hielten, ſo wolte ich ſagen, daß auch dieſe kein groß Bedencken tragen wuͤrden, den Tod frey- willig zu erwehlen, den Seneca und Soerates
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und mit Exempeln,
§. 75.
Ob nun wol bey den meiſten die That des
Selbſt-Mords ohne Verſtand vollbracht wird,
ſo bin ich doch keinesweges geſonnen zu leugnen,
daß nicht auch dann und wann einige Men-
ſchen, ſo keine Melancholici ſind, mit Ver-
ſtand und Vorſatze zu dieſer That ſchreiten ſol-
ten. So viel auch pure Atheiſten im Tode
einen GOtt zu glauben moͤchten anfangen, ſo
halt ich doch, daß einer in ſeiner Atheiſterey ſo
verblendet werden koͤnne, daß er ſolchen Jrr-
thum ſtets behalte, und er folglich, weil er
nach dieſer Welt nichts glaubt, noch fuͤrchtet,
bey gewiſſen Umſtaͤnden, der Ubel der Welt
los zu werden, ſich ſelbſt mit Verſtande toͤdten
koͤnne. Viel Gottloſen ſind auch Atheiſten,
ohne daß ſie es wiſſen. Sie glauben weder
Hoͤlle noch Himmel, noch juͤngſtes Gerichte,
ob ſie gleich keinen Actum reflexum ihres Un-
glaubens haben; und alſo koͤnnen ſie aus De-
ſperation bey zeitlichem Ungluͤck leicht zur Au-
tochirie ſich entſchließen. Wenn unter uns
noch Stoici waͤren, welche die Autochirie vor
die hoͤchſte Staffel der Tapfferkeit vor Zeiten
hielten, ſo wolte ich ſagen, daß auch dieſe kein
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Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. Leipzig, 1738, S. 370. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bernd_lebensbeschreibung_1738/416>, abgerufen am 22.11.2024.
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