Zur selben Zeit nahmen die Leute noch nicht die Gesang-Bücher mit in die Kirche, ietzund aber ist selten einer, der nicht sein Gesang- Buch bey sich hat, und also ja wohl das Lied, so gesungen wird, aufschlagen kan.
Am allermeisten declamirte wider mich ei- ne, so auch nicht mehr vorhanden, und der es doch am wenigsten wol Ursache hatte. Jch war mit ihm noch vor Zeiten in Collegia ge- gangen, hatte unterschiedene mahl in Leipzig, und auch zweymahl pro loco disputiret, und war als Magister legens schon ziemlich bekannt worden; und doch hatte er das Hertze, seine Zuhörer einst zu bereden, es wäre nicht ein Schatten der Gelehrsamkeit bey dem zu fin- den, dem sie anietzo so häuffig nachlieffen. Es wäre eine Thorheit, daß sie sprächen: der, und der wisse alles, was im menschlichen Her- tzen verborgen liege; er kenne die gantze Na- tur des Menschen; es wäre diß nichts weni- ger, als Gelehrsamkeit: es wäre nichts leich- ter, als dieses; denn es dürffte ein ieder nur auf sein eigen Hertz, auf seine Gedancken, Neigungen, Urtheile, und Schlüsse Achtung geben, so würde er alles das von sich selbst mer- cken, und erkennen können, wovon man so viel Rühmens machte, ohne daß es ihm ein Predi- ger erst sagen dürffte. Der Char-Freytag
Anno
N n 2
ſowol auf den Cantzeln,
Zur ſelben Zeit nahmen die Leute noch nicht die Geſang-Buͤcher mit in die Kirche, ietzund aber iſt ſelten einer, der nicht ſein Geſang- Buch bey ſich hat, und alſo ja wohl das Lied, ſo geſungen wird, aufſchlagen kan.
Am allermeiſten declamirte wider mich ei- ne, ſo auch nicht mehr vorhanden, und der es doch am wenigſten wol Urſache hatte. Jch war mit ihm noch vor Zeiten in Collegia ge- gangen, hatte unterſchiedene mahl in Leipzig, und auch zweymahl pro loco diſputiret, und war als Magiſter legens ſchon ziemlich bekannt worden; und doch hatte er das Hertze, ſeine Zuhoͤrer einſt zu bereden, es waͤre nicht ein Schatten der Gelehrſamkeit bey dem zu fin- den, dem ſie anietzo ſo haͤuffig nachlieffen. Es waͤre eine Thorheit, daß ſie ſpraͤchen: der, und der wiſſe alles, was im menſchlichen Her- tzen verborgen liege; er kenne die gantze Na- tur des Menſchen; es waͤre diß nichts weni- ger, als Gelehrſamkeit: es waͤre nichts leich- ter, als dieſes; denn es duͤrffte ein ieder nur auf ſein eigen Hertz, auf ſeine Gedancken, Neigungen, Urtheile, und Schluͤſſe Achtung geben, ſo wuͤrde er alles das von ſich ſelbſt mer- cken, und erkennen koͤnnen, wovon man ſo viel Ruͤhmens machte, ohne daß es ihm ein Predi- ger erſt ſagen duͤrffte. Der Char-Freytag
Anno
N n 2
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ſowol auf den Cantzeln,
Zur ſelben Zeit nahmen die Leute noch nicht
die Geſang-Buͤcher mit in die Kirche, ietzund
aber iſt ſelten einer, der nicht ſein Geſang-
Buch bey ſich hat, und alſo ja wohl das Lied,
ſo geſungen wird, aufſchlagen kan.
Am allermeiſten declamirte wider mich ei-
ne, ſo auch nicht mehr vorhanden, und der es
doch am wenigſten wol Urſache hatte. Jch
war mit ihm noch vor Zeiten in Collegia ge-
gangen, hatte unterſchiedene mahl in Leipzig,
und auch zweymahl pro loco diſputiret, und
war als Magiſter legens ſchon ziemlich bekannt
worden; und doch hatte er das Hertze, ſeine
Zuhoͤrer einſt zu bereden, es waͤre nicht ein
Schatten der Gelehrſamkeit bey dem zu fin-
den, dem ſie anietzo ſo haͤuffig nachlieffen.
Es waͤre eine Thorheit, daß ſie ſpraͤchen: der,
und der wiſſe alles, was im menſchlichen Her-
tzen verborgen liege; er kenne die gantze Na-
tur des Menſchen; es waͤre diß nichts weni-
ger, als Gelehrſamkeit: es waͤre nichts leich-
ter, als dieſes; denn es duͤrffte ein ieder nur
auf ſein eigen Hertz, auf ſeine Gedancken,
Neigungen, Urtheile, und Schluͤſſe Achtung
geben, ſo wuͤrde er alles das von ſich ſelbſt mer-
cken, und erkennen koͤnnen, wovon man ſo viel
Ruͤhmens machte, ohne daß es ihm ein Predi-
ger erſt ſagen duͤrffte. Der Char-Freytag
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Bernd, Adam: Eigene Lebens-Beschreibung. Leipzig, 1738, S. 563. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bernd_lebensbeschreibung_1738/609>, abgerufen am 29.09.2024.
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