Berthold, Franz [d. i. Adelheid Reinbold]: Irrwisch-Fritze. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [1]–115. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.er sich vom Feuer ab, streifte Lieschens todtbleiche Gestalt und sagte: Nun, denkt das Mädel nicht ans Essen? Er ging. Lieschen fuhr auf, wie ein Uhrwerk zusammenschnurrt. Sie wußte nicht, was sie that, es lag ihr im Kopfe wie Blei, wie Blei lag's ihr in den Gliedern; sie kochte die Suppe, sie trug sie herein, sie sagte kein Wort. Es setzten sich alle zum Essen, mechanisch setzte sie sich auch auf die Bank; die Mutter stellte den irdenen Teller vor sie hin; sie hob den Löffel auf wie die Andern, aber als er in ihren zitternden Händen an den Teller klapperte, schien sie zum Bewußtsein zu kommen, sprang auf und sagte: Ich habe Kopfweh und will nicht essen! Sie ging auf ihre Kammer, sie riß sich die Kleider ab, sie riß die alte Nadel vom Kopfe und zerbrach sie wie einen Span, dann warf sie sich aufs Bett, wo ihr die Sinne vergingen. Am Morgen schüttelte sie eine Hand -- es war Mariechen's; die Sonne stieg schon hoch am Himmel. Nun, sagte die Schwester, du schläfst lange; die Mutter hat heute den Kaffee selbst gekocht, und der Vater hat sich geputzt und ist nach Altstadt gegangen. Nach Altstadt! rief Lieschen und sprang auf -- eine böse Ahnung trat ihr in dem Worte entgegen. Ja, antwortete Mariechen, nach Altstadt, er macht dort ein Korngeschäft mit dem Baumann. Lieschen dachte: Desto besser, so kömmt der Baumann nicht hierher. Der wohlhabende Bäcker hatte ihr bei seiner letzten Anwesenheit ein er sich vom Feuer ab, streifte Lieschens todtbleiche Gestalt und sagte: Nun, denkt das Mädel nicht ans Essen? Er ging. Lieschen fuhr auf, wie ein Uhrwerk zusammenschnurrt. Sie wußte nicht, was sie that, es lag ihr im Kopfe wie Blei, wie Blei lag's ihr in den Gliedern; sie kochte die Suppe, sie trug sie herein, sie sagte kein Wort. Es setzten sich alle zum Essen, mechanisch setzte sie sich auch auf die Bank; die Mutter stellte den irdenen Teller vor sie hin; sie hob den Löffel auf wie die Andern, aber als er in ihren zitternden Händen an den Teller klapperte, schien sie zum Bewußtsein zu kommen, sprang auf und sagte: Ich habe Kopfweh und will nicht essen! Sie ging auf ihre Kammer, sie riß sich die Kleider ab, sie riß die alte Nadel vom Kopfe und zerbrach sie wie einen Span, dann warf sie sich aufs Bett, wo ihr die Sinne vergingen. Am Morgen schüttelte sie eine Hand — es war Mariechen's; die Sonne stieg schon hoch am Himmel. Nun, sagte die Schwester, du schläfst lange; die Mutter hat heute den Kaffee selbst gekocht, und der Vater hat sich geputzt und ist nach Altstadt gegangen. Nach Altstadt! rief Lieschen und sprang auf — eine böse Ahnung trat ihr in dem Worte entgegen. Ja, antwortete Mariechen, nach Altstadt, er macht dort ein Korngeschäft mit dem Baumann. Lieschen dachte: Desto besser, so kömmt der Baumann nicht hierher. Der wohlhabende Bäcker hatte ihr bei seiner letzten Anwesenheit ein <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0032"/> er sich vom Feuer ab, streifte Lieschens todtbleiche Gestalt und sagte: Nun, denkt das Mädel nicht ans Essen? Er ging. Lieschen fuhr auf, wie ein Uhrwerk zusammenschnurrt. Sie wußte nicht, was sie that, es lag ihr im Kopfe wie Blei, wie Blei lag's ihr in den Gliedern; sie kochte die Suppe, sie trug sie herein, sie sagte kein Wort. Es setzten sich alle zum Essen, mechanisch setzte sie sich auch auf die Bank; die Mutter stellte den irdenen Teller vor sie hin; sie hob den Löffel auf wie die Andern, aber als er in ihren zitternden Händen an den Teller klapperte, schien sie zum Bewußtsein zu kommen, sprang auf und sagte: Ich habe Kopfweh und will nicht essen!</p><lb/> <p>Sie ging auf ihre Kammer, sie riß sich die Kleider ab, sie riß die alte Nadel vom Kopfe und zerbrach sie wie einen Span, dann warf sie sich aufs Bett, wo ihr die Sinne vergingen.</p><lb/> <p>Am Morgen schüttelte sie eine Hand — es war Mariechen's; die Sonne stieg schon hoch am Himmel. Nun, sagte die Schwester, du schläfst lange; die Mutter hat heute den Kaffee selbst gekocht, und der Vater hat sich geputzt und ist nach Altstadt gegangen.</p><lb/> <p>Nach Altstadt! rief Lieschen und sprang auf — eine böse Ahnung trat ihr in dem Worte entgegen. Ja, antwortete Mariechen, nach Altstadt, er macht dort ein Korngeschäft mit dem Baumann. Lieschen dachte: Desto besser, so kömmt der Baumann nicht hierher. Der wohlhabende Bäcker hatte ihr bei seiner letzten Anwesenheit ein<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0032]
er sich vom Feuer ab, streifte Lieschens todtbleiche Gestalt und sagte: Nun, denkt das Mädel nicht ans Essen? Er ging. Lieschen fuhr auf, wie ein Uhrwerk zusammenschnurrt. Sie wußte nicht, was sie that, es lag ihr im Kopfe wie Blei, wie Blei lag's ihr in den Gliedern; sie kochte die Suppe, sie trug sie herein, sie sagte kein Wort. Es setzten sich alle zum Essen, mechanisch setzte sie sich auch auf die Bank; die Mutter stellte den irdenen Teller vor sie hin; sie hob den Löffel auf wie die Andern, aber als er in ihren zitternden Händen an den Teller klapperte, schien sie zum Bewußtsein zu kommen, sprang auf und sagte: Ich habe Kopfweh und will nicht essen!
Sie ging auf ihre Kammer, sie riß sich die Kleider ab, sie riß die alte Nadel vom Kopfe und zerbrach sie wie einen Span, dann warf sie sich aufs Bett, wo ihr die Sinne vergingen.
Am Morgen schüttelte sie eine Hand — es war Mariechen's; die Sonne stieg schon hoch am Himmel. Nun, sagte die Schwester, du schläfst lange; die Mutter hat heute den Kaffee selbst gekocht, und der Vater hat sich geputzt und ist nach Altstadt gegangen.
Nach Altstadt! rief Lieschen und sprang auf — eine böse Ahnung trat ihr in dem Worte entgegen. Ja, antwortete Mariechen, nach Altstadt, er macht dort ein Korngeschäft mit dem Baumann. Lieschen dachte: Desto besser, so kömmt der Baumann nicht hierher. Der wohlhabende Bäcker hatte ihr bei seiner letzten Anwesenheit ein
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Zitationshilfe: | Berthold, Franz [d. i. Adelheid Reinbold]: Irrwisch-Fritze. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [1]–115. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berthold_irrwischfritze_1910/32>, abgerufen am 16.02.2025. |