tung, welche das Gesetzbuch mit dem Worte "entführen" verbindet, doch veranlaßt worden.
II. Die Entführung muß durch List oder Gewalt geschehen sein. Es sind darunter alle Mittel arglistiger Täuschung, so wie Drohungen und die Ueberwindung körperlichen Widerstandes zu denken, durch welche der Thäter die Herrschaft über den Entführten erlangt, und namentlich seine Wegschaffung von dem einen Orte zum andern bewirkt. Streng genommen reicht also die Thatsache der Bemächtigung, der Freiheits- beraubung noch nicht aus, um den Thatbestand des Verbrechens zu begründen; es erscheint dieß erst als ein strafbarer Versuch, und nur wenn die Entfernung vom Orte hinzugekommen, liegt das vollendete Verbrechen vor.
III. Die Erreichung der verbrecherischen Absicht gehört dagegen, wie auch in den Motiven von 1850. hervorgehoben ist, nicht zu dem Thatbestande des Verbrechens, sondern kommt nur bei der Strafzumes- sung in Betracht.
IV. Das in dem Gesetzbuch allein als Menschenraub bezeichnete Verbrechen ist in §. 204. näher festgestellt, indem die verschiedenen Fälle der Verübung nach der Absicht des Thäters bestimmt werden. Auf das Alter des Entführten ist dabei keine Rücksicht genommen worden.
a. Die Absicht geht dahin, den Entführten in hülfloser Lage aus- zusetzen. Der Entwurf von 1843. §. 356. Nr. 1. sagte statt dessen: "in entfernte Weltgegenden auszusetzen"; die Staatsraths-Kommission beschloß aber die angeführte Veränderung, weil dieser letzte Ausdruck zu unbestimmt und zu eng sei. Es wurde dabei noch besonders bemerkt, daß das Verbrechen der Aussetzung (§. 183.) für die in §. 204. be- griffenen Fälle nicht ausreiche, da einerseits dort nur von der Aussetzung der wegen jugendlichen Alters, Gebrechlichkeit oder Krankheit hülflosen Personen die Rede sei, andererseits aber die Handlung in ein viel schwe- reres Verbrechen übergehe, wenn sich der Thäter der Person, die er aussetzen wolle, zuvor durch List oder Gewalt bemächtigt habe. x) Es hätte noch hinzugefügt werden können, daß die Aussetzung im engern Sinn meistens von der Mutter an einem unehelichen Kinde verübt wird, wobei an eine vorhergehende Bemächtigung oder Entführung nicht zu denken ist.
b. Der Entführte soll in Sklaverei oder Leibeigenschaft oder in auswärtige Kriegsdienste oder Schiffsdienste gebracht werden. Darunter ist das Verbrechen verstanden, welches früher als Seelenverkäuferei be-
x)Verhandlungen der Staatsrath-Kommission von 1846. S. 125.
Beseler Kommentar. 26
§§. 204-209. Die Entführung.
tung, welche das Geſetzbuch mit dem Worte „entführen“ verbindet, doch veranlaßt worden.
II. Die Entführung muß durch Liſt oder Gewalt geſchehen ſein. Es ſind darunter alle Mittel argliſtiger Täuſchung, ſo wie Drohungen und die Ueberwindung körperlichen Widerſtandes zu denken, durch welche der Thäter die Herrſchaft über den Entführten erlangt, und namentlich ſeine Wegſchaffung von dem einen Orte zum andern bewirkt. Streng genommen reicht alſo die Thatſache der Bemächtigung, der Freiheits- beraubung noch nicht aus, um den Thatbeſtand des Verbrechens zu begründen; es erſcheint dieß erſt als ein ſtrafbarer Verſuch, und nur wenn die Entfernung vom Orte hinzugekommen, liegt das vollendete Verbrechen vor.
III. Die Erreichung der verbrecheriſchen Abſicht gehört dagegen, wie auch in den Motiven von 1850. hervorgehoben iſt, nicht zu dem Thatbeſtande des Verbrechens, ſondern kommt nur bei der Strafzumeſ- ſung in Betracht.
IV. Das in dem Geſetzbuch allein als Menſchenraub bezeichnete Verbrechen iſt in §. 204. näher feſtgeſtellt, indem die verſchiedenen Fälle der Verübung nach der Abſicht des Thäters beſtimmt werden. Auf das Alter des Entführten iſt dabei keine Rückſicht genommen worden.
a. Die Abſicht geht dahin, den Entführten in hülfloſer Lage aus- zuſetzen. Der Entwurf von 1843. §. 356. Nr. 1. ſagte ſtatt deſſen: „in entfernte Weltgegenden auszuſetzen“; die Staatsraths-Kommiſſion beſchloß aber die angeführte Veränderung, weil dieſer letzte Ausdruck zu unbeſtimmt und zu eng ſei. Es wurde dabei noch beſonders bemerkt, daß das Verbrechen der Ausſetzung (§. 183.) für die in §. 204. be- griffenen Fälle nicht ausreiche, da einerſeits dort nur von der Ausſetzung der wegen jugendlichen Alters, Gebrechlichkeit oder Krankheit hülfloſen Perſonen die Rede ſei, andererſeits aber die Handlung in ein viel ſchwe- reres Verbrechen übergehe, wenn ſich der Thäter der Perſon, die er ausſetzen wolle, zuvor durch Liſt oder Gewalt bemächtigt habe. x) Es hätte noch hinzugefügt werden können, daß die Ausſetzung im engern Sinn meiſtens von der Mutter an einem unehelichen Kinde verübt wird, wobei an eine vorhergehende Bemächtigung oder Entführung nicht zu denken iſt.
b. Der Entführte ſoll in Sklaverei oder Leibeigenſchaft oder in auswärtige Kriegsdienſte oder Schiffsdienſte gebracht werden. Darunter iſt das Verbrechen verſtanden, welches früher als Seelenverkäuferei be-
x)Verhandlungen der Staatsrath-Kommiſſion von 1846. S. 125.
Beſeler Kommentar. 26
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§§. 204-209. Die Entführung.
tung, welche das Geſetzbuch mit dem Worte „entführen“ verbindet, doch
veranlaßt worden.
II. Die Entführung muß durch Liſt oder Gewalt geſchehen ſein.
Es ſind darunter alle Mittel argliſtiger Täuſchung, ſo wie Drohungen
und die Ueberwindung körperlichen Widerſtandes zu denken, durch welche
der Thäter die Herrſchaft über den Entführten erlangt, und namentlich
ſeine Wegſchaffung von dem einen Orte zum andern bewirkt. Streng
genommen reicht alſo die Thatſache der Bemächtigung, der Freiheits-
beraubung noch nicht aus, um den Thatbeſtand des Verbrechens zu
begründen; es erſcheint dieß erſt als ein ſtrafbarer Verſuch, und nur
wenn die Entfernung vom Orte hinzugekommen, liegt das vollendete
Verbrechen vor.
III. Die Erreichung der verbrecheriſchen Abſicht gehört dagegen,
wie auch in den Motiven von 1850. hervorgehoben iſt, nicht zu dem
Thatbeſtande des Verbrechens, ſondern kommt nur bei der Strafzumeſ-
ſung in Betracht.
IV. Das in dem Geſetzbuch allein als Menſchenraub bezeichnete
Verbrechen iſt in §. 204. näher feſtgeſtellt, indem die verſchiedenen Fälle
der Verübung nach der Abſicht des Thäters beſtimmt werden. Auf das
Alter des Entführten iſt dabei keine Rückſicht genommen worden.
a. Die Abſicht geht dahin, den Entführten in hülfloſer Lage aus-
zuſetzen. Der Entwurf von 1843. §. 356. Nr. 1. ſagte ſtatt deſſen:
„in entfernte Weltgegenden auszuſetzen“; die Staatsraths-Kommiſſion
beſchloß aber die angeführte Veränderung, weil dieſer letzte Ausdruck zu
unbeſtimmt und zu eng ſei. Es wurde dabei noch beſonders bemerkt,
daß das Verbrechen der Ausſetzung (§. 183.) für die in §. 204. be-
griffenen Fälle nicht ausreiche, da einerſeits dort nur von der Ausſetzung
der wegen jugendlichen Alters, Gebrechlichkeit oder Krankheit hülfloſen
Perſonen die Rede ſei, andererſeits aber die Handlung in ein viel ſchwe-
reres Verbrechen übergehe, wenn ſich der Thäter der Perſon, die er
ausſetzen wolle, zuvor durch Liſt oder Gewalt bemächtigt habe. x) Es
hätte noch hinzugefügt werden können, daß die Ausſetzung im engern
Sinn meiſtens von der Mutter an einem unehelichen Kinde verübt wird,
wobei an eine vorhergehende Bemächtigung oder Entführung nicht zu
denken iſt.
b. Der Entführte ſoll in Sklaverei oder Leibeigenſchaft oder in
auswärtige Kriegsdienſte oder Schiffsdienſte gebracht werden. Darunter
iſt das Verbrechen verſtanden, welches früher als Seelenverkäuferei be-
x) Verhandlungen der Staatsrath-Kommiſſion von 1846. S. 125.
Beſeler Kommentar. 26
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Beseler, Georg: Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Leipzig, 1851, S. 393. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_kommentar_1851/403>, abgerufen am 22.11.2024.
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