Beseler, Georg: Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Leipzig, 1851.Th. II. V. d. einzelnen Verbr. etc. Tit. XVII. Verbr. u. Verg. wider d. Freih. 1850. mit den Worten bezeichnet: "wer einen Menschen durch List oder Gewalt entführt", während es früher hieß "sich bemächtigt". Die Motive von 1850. rechtfertigen diese Veränderung mit der Be- merkung, daß die Beraubung der Freiheit vollständig bewirkt sein müsse, um das vollendete Verbrechen zu konstatiren. Durch "entführen" werde diese vollendete Bemächtigung der Person bezeichnet. Aber wenn es überhaupt schon bedenklich ist, Ausdrücke, welche einmal zur Bezeich- nung bestimmter Rechtsbegriffe gebraucht werden, in einem weiteren Sinn zu nehmen, als nach der gewöhnlichen Vorstellung damit ver- bunden wird, so hätten in dem vorliegenden Fall auch noch andere Erwägungen von dem allgemeinen Gebrauch des Wortes "entführen" abhalten sollen. Dasselbe wird nämlich gewöhnlich gebraucht von der Entfernung von Frauenspersonen aus der Gewalt ihrer Ange- hörigen zum Zweck der Unzucht oder der Ehe, so daß bei der Entfüh- rung im engern Sinn eine zwiefache Rechtsverletzung vorzuliegen pflegt, -- die gegen die Frauensperson und die gegen den Inhaber der Gewalt. Der Letztere kann daher nicht wohl als selbst die Entführung verübend oder auch nur daran Theil nehmend gedacht werden. w) Bei dem Men- schenraube nun soll nach der oben angeführten Auffassung, welche bei der Revision vorherrschte, die Betheiligung der Eltern und Vormünder mit der vollen Strafe geahndet werden, und wegen des in §. 205. vorgesehenen Verbrechens hatte noch der Entwurf von 1847. §. 257. dieß ausdrücklich vorgeschrieben. Wenn es nun in den Motiven von 1850. heißt, der §. 257. sei deswegen nicht besonders aufgenommen worden, weil im Wesentlichen die allgemeinen Vorschriften des §. 31. (34.) von der Theilnahme genügten; so muß der Richter, um der Ab- sicht des Gesetzgebers zu entsprechen, in einem solchen Fall erst von dem gewöhnlichen Begriff der Entführung ganz absehen, und das allgemeine Unrecht, welches in dem Zwecke des Verbrechens liegt, sich vergegenwär- tigen, um gegen Eltern und Vormünder zu einem Strafurtheile gelan- gen zu können. Es soll nicht behauptet werden, daß dieß an sich rechtlich unmöglich sei, da eine solche Gesetzesanwendung noch auf dem Gebiete der Auslegung sich bewegt, und die Grenze noch nicht zu über- schreiten braucht, welche dasselbe von dem der Analogie scheidet. Aber eine Verdunkelung an sich klarer Begriffe ist durch die weitere Bedeu- w) Den Begriff der Entführung in dem bezeichneten engeren Sinne bestimmt der
Code penal. Art. 354. Quiconque aura, par fraude ou violence, enleve ou fait enlever des mineurs, ou les aura entraeines, detournes ou deplaces, ou les aura fait entrainer, detourner ou deplacer des lieux ou ils etaient mis par ceux a l'autorite ou a la direction desquels ils etaient soumis ou confies, subira la peine de la reclusion. Th. II. V. d. einzelnen Verbr. ꝛc. Tit. XVII. Verbr. u. Verg. wider d. Freih. 1850. mit den Worten bezeichnet: „wer einen Menſchen durch Liſt oder Gewalt entführt“, während es früher hieß „ſich bemächtigt“. Die Motive von 1850. rechtfertigen dieſe Veränderung mit der Be- merkung, daß die Beraubung der Freiheit vollſtändig bewirkt ſein müſſe, um das vollendete Verbrechen zu konſtatiren. Durch „entführen“ werde dieſe vollendete Bemächtigung der Perſon bezeichnet. Aber wenn es überhaupt ſchon bedenklich iſt, Ausdrücke, welche einmal zur Bezeich- nung beſtimmter Rechtsbegriffe gebraucht werden, in einem weiteren Sinn zu nehmen, als nach der gewöhnlichen Vorſtellung damit ver- bunden wird, ſo hätten in dem vorliegenden Fall auch noch andere Erwägungen von dem allgemeinen Gebrauch des Wortes „entführen“ abhalten ſollen. Daſſelbe wird nämlich gewöhnlich gebraucht von der Entfernung von Frauensperſonen aus der Gewalt ihrer Ange- hörigen zum Zweck der Unzucht oder der Ehe, ſo daß bei der Entfüh- rung im engern Sinn eine zwiefache Rechtsverletzung vorzuliegen pflegt, — die gegen die Frauensperſon und die gegen den Inhaber der Gewalt. Der Letztere kann daher nicht wohl als ſelbſt die Entführung verübend oder auch nur daran Theil nehmend gedacht werden. w) Bei dem Men- ſchenraube nun ſoll nach der oben angeführten Auffaſſung, welche bei der Reviſion vorherrſchte, die Betheiligung der Eltern und Vormünder mit der vollen Strafe geahndet werden, und wegen des in §. 205. vorgeſehenen Verbrechens hatte noch der Entwurf von 1847. §. 257. dieß ausdrücklich vorgeſchrieben. Wenn es nun in den Motiven von 1850. heißt, der §. 257. ſei deswegen nicht beſonders aufgenommen worden, weil im Weſentlichen die allgemeinen Vorſchriften des §. 31. (34.) von der Theilnahme genügten; ſo muß der Richter, um der Ab- ſicht des Geſetzgebers zu entſprechen, in einem ſolchen Fall erſt von dem gewöhnlichen Begriff der Entführung ganz abſehen, und das allgemeine Unrecht, welches in dem Zwecke des Verbrechens liegt, ſich vergegenwär- tigen, um gegen Eltern und Vormünder zu einem Strafurtheile gelan- gen zu können. Es ſoll nicht behauptet werden, daß dieß an ſich rechtlich unmöglich ſei, da eine ſolche Geſetzesanwendung noch auf dem Gebiete der Auslegung ſich bewegt, und die Grenze noch nicht zu über- ſchreiten braucht, welche daſſelbe von dem der Analogie ſcheidet. Aber eine Verdunkelung an ſich klarer Begriffe iſt durch die weitere Bedeu- w) Den Begriff der Entführung in dem bezeichneten engeren Sinne beſtimmt der
Code pénal. Art. 354. Quiconque aura, par fraude ou violence, enlevé ou fait enlever des mineurs, ou les aura entraînés, détournés ou déplacés, ou les aura fait entrainer, détourner ou déplacer des lieux où ils étaient mis par ceux à l'autorité ou à la direction desquels ils étaient soumis ou confiés, subira la peine de la reclusion. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0402" n="392"/><fw place="top" type="header">Th. II. V. d. einzelnen Verbr. ꝛc. Tit. XVII. Verbr. u. Verg. wider d. Freih.</fw><lb/> 1850. mit den Worten bezeichnet: „wer einen Menſchen durch Liſt<lb/> oder Gewalt entführt“, während es früher hieß „ſich bemächtigt“.<lb/> Die Motive von 1850. rechtfertigen dieſe Veränderung mit der Be-<lb/> merkung, daß die Beraubung der Freiheit vollſtändig bewirkt ſein müſſe,<lb/> um das vollendete Verbrechen zu konſtatiren. Durch „entführen“ werde<lb/> dieſe vollendete Bemächtigung der Perſon bezeichnet. Aber wenn es<lb/> überhaupt ſchon bedenklich iſt, Ausdrücke, welche einmal zur Bezeich-<lb/> nung beſtimmter Rechtsbegriffe gebraucht werden, in einem weiteren<lb/> Sinn zu nehmen, als nach der gewöhnlichen Vorſtellung damit ver-<lb/> bunden wird, ſo hätten in dem vorliegenden Fall auch noch andere<lb/> Erwägungen von dem allgemeinen Gebrauch des Wortes „entführen“<lb/> abhalten ſollen. Daſſelbe wird nämlich gewöhnlich gebraucht von<lb/> der Entfernung von Frauensperſonen aus der Gewalt ihrer Ange-<lb/> hörigen zum Zweck der Unzucht oder der Ehe, ſo daß bei der Entfüh-<lb/> rung im engern Sinn eine zwiefache Rechtsverletzung vorzuliegen pflegt,<lb/> — die gegen die Frauensperſon und die gegen den Inhaber der Gewalt.<lb/> Der Letztere kann daher nicht wohl als ſelbſt die Entführung verübend<lb/> oder auch nur daran Theil nehmend gedacht werden. <note place="foot" n="w)">Den Begriff der Entführung in dem bezeichneten engeren Sinne beſtimmt der<lb/><hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">Code pénal</hi>. Art.</hi> 354. <hi rendition="#aq">Quiconque aura, par fraude ou violence, enlevé<lb/> ou fait enlever des mineurs, ou les aura entraînés, détournés ou déplacés,<lb/> ou les aura fait entrainer, détourner ou déplacer des lieux où ils étaient<lb/> mis par ceux à l'autorité ou à la direction desquels ils étaient soumis ou<lb/> confiés, subira la peine de la reclusion</hi>.</note> Bei dem Men-<lb/> ſchenraube nun ſoll nach der oben angeführten Auffaſſung, welche bei<lb/> der Reviſion vorherrſchte, die Betheiligung der Eltern und Vormünder<lb/> mit der vollen Strafe geahndet werden, und wegen des in §. 205.<lb/> vorgeſehenen Verbrechens hatte noch der Entwurf von 1847. §. 257.<lb/> dieß ausdrücklich vorgeſchrieben. Wenn es nun in den Motiven von<lb/> 1850. heißt, der §. 257. ſei deswegen nicht beſonders aufgenommen<lb/> worden, weil im Weſentlichen die allgemeinen Vorſchriften des §. 31.<lb/> (34.) von der Theilnahme genügten; ſo muß der Richter, um der Ab-<lb/> ſicht des Geſetzgebers zu entſprechen, in einem ſolchen Fall erſt von dem<lb/> gewöhnlichen Begriff der Entführung ganz abſehen, und das allgemeine<lb/> Unrecht, welches in dem <hi rendition="#g">Zwecke</hi> des Verbrechens liegt, ſich vergegenwär-<lb/> tigen, um gegen Eltern und Vormünder zu einem Strafurtheile gelan-<lb/> gen zu können. Es ſoll nicht behauptet werden, daß dieß an ſich<lb/> rechtlich unmöglich ſei, da eine ſolche Geſetzesanwendung noch auf dem<lb/> Gebiete der Auslegung ſich bewegt, und die Grenze noch nicht zu über-<lb/> ſchreiten braucht, welche daſſelbe von dem der Analogie ſcheidet. Aber<lb/> eine Verdunkelung an ſich klarer Begriffe iſt durch die weitere Bedeu-<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [392/0402]
Th. II. V. d. einzelnen Verbr. ꝛc. Tit. XVII. Verbr. u. Verg. wider d. Freih.
1850. mit den Worten bezeichnet: „wer einen Menſchen durch Liſt
oder Gewalt entführt“, während es früher hieß „ſich bemächtigt“.
Die Motive von 1850. rechtfertigen dieſe Veränderung mit der Be-
merkung, daß die Beraubung der Freiheit vollſtändig bewirkt ſein müſſe,
um das vollendete Verbrechen zu konſtatiren. Durch „entführen“ werde
dieſe vollendete Bemächtigung der Perſon bezeichnet. Aber wenn es
überhaupt ſchon bedenklich iſt, Ausdrücke, welche einmal zur Bezeich-
nung beſtimmter Rechtsbegriffe gebraucht werden, in einem weiteren
Sinn zu nehmen, als nach der gewöhnlichen Vorſtellung damit ver-
bunden wird, ſo hätten in dem vorliegenden Fall auch noch andere
Erwägungen von dem allgemeinen Gebrauch des Wortes „entführen“
abhalten ſollen. Daſſelbe wird nämlich gewöhnlich gebraucht von
der Entfernung von Frauensperſonen aus der Gewalt ihrer Ange-
hörigen zum Zweck der Unzucht oder der Ehe, ſo daß bei der Entfüh-
rung im engern Sinn eine zwiefache Rechtsverletzung vorzuliegen pflegt,
— die gegen die Frauensperſon und die gegen den Inhaber der Gewalt.
Der Letztere kann daher nicht wohl als ſelbſt die Entführung verübend
oder auch nur daran Theil nehmend gedacht werden. w) Bei dem Men-
ſchenraube nun ſoll nach der oben angeführten Auffaſſung, welche bei
der Reviſion vorherrſchte, die Betheiligung der Eltern und Vormünder
mit der vollen Strafe geahndet werden, und wegen des in §. 205.
vorgeſehenen Verbrechens hatte noch der Entwurf von 1847. §. 257.
dieß ausdrücklich vorgeſchrieben. Wenn es nun in den Motiven von
1850. heißt, der §. 257. ſei deswegen nicht beſonders aufgenommen
worden, weil im Weſentlichen die allgemeinen Vorſchriften des §. 31.
(34.) von der Theilnahme genügten; ſo muß der Richter, um der Ab-
ſicht des Geſetzgebers zu entſprechen, in einem ſolchen Fall erſt von dem
gewöhnlichen Begriff der Entführung ganz abſehen, und das allgemeine
Unrecht, welches in dem Zwecke des Verbrechens liegt, ſich vergegenwär-
tigen, um gegen Eltern und Vormünder zu einem Strafurtheile gelan-
gen zu können. Es ſoll nicht behauptet werden, daß dieß an ſich
rechtlich unmöglich ſei, da eine ſolche Geſetzesanwendung noch auf dem
Gebiete der Auslegung ſich bewegt, und die Grenze noch nicht zu über-
ſchreiten braucht, welche daſſelbe von dem der Analogie ſcheidet. Aber
eine Verdunkelung an ſich klarer Begriffe iſt durch die weitere Bedeu-
w) Den Begriff der Entführung in dem bezeichneten engeren Sinne beſtimmt der
Code pénal. Art. 354. Quiconque aura, par fraude ou violence, enlevé
ou fait enlever des mineurs, ou les aura entraînés, détournés ou déplacés,
ou les aura fait entrainer, détourner ou déplacer des lieux où ils étaient
mis par ceux à l'autorité ou à la direction desquels ils étaient soumis ou
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