3. Zur näheren Begriffsbestimmung eines Standes ist ferner noch das Merkmal hinzuzunehmen, daß er ein selbständiges Le-bensprincip in sich trägt, und mit diesem die besondere Sphäre in welcher er sich bewegt, ausfüllt. Wenn daher eine gewisse Classe von Personen ihre eigentliche Bestimmung und Bedeutung nur von au- ßen her erhält, und sich in ihrer Thätigkeit nur einer höheren Anfor- derung dienstbar zeigt, so ist sie nicht zu den Ständen im en- geren juristischen Sinne zu rechnen. Dieser Gesichtspunct ist namentlich in Beziehung auf die Staatsbeamten fest zu hal- ten; er kommt aber auch bei andern Personen, welche einem bestimmten Beruf nachgehen, und durch ihre Beschäftigung zu einer gewissen Gemeinschaft verbunden sind, also bei den Künst- lern, Gelehrten, Aerzten u. s. w. in Betracht.
4. Dieses selbständige Lebensprincip, welches die einzel- nen Stände beherrscht, ruft auch das bestimmte, abgesonderte Interesse hervor, welches sie in ihrer allgemeinen Richtung und mit den ihnen eigenthümlichen Institutionen verfolgen; es begründet ferner die abgeschlossene Haltung, welche sie un- ter einander und der übrigen Bevölkerung gegenüber einneh- men, und die sich ganz von selbst geltend macht, so bald es sich nicht von dem einzelnen Mitgliede als solchem, sondern von dem Stande als Ganzes betrachtet, handelt.
Fassen wir nun in diesem engeren Sinn den Begriff eines Standes auf, und betrachten wir dann unbefangen das deutsche Volk in seiner gegenwärtigen socialen und politischen Verfassung, so wird sich wohl bald ergeben, daß von einem consequent durchgebildeten Ständewesen in seiner schroffen Ab- sonderung nicht mehr die Rede seyn kann. Diese Form der Rechtsbildung, welche sich im späteren Mittelalter entwickelte,
Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht.
3. Zur naͤheren Begriffsbeſtimmung eines Standes iſt ferner noch das Merkmal hinzuzunehmen, daß er ein ſelbſtaͤndiges Le-bensprincip in ſich traͤgt, und mit dieſem die beſondere Sphaͤre in welcher er ſich bewegt, ausfuͤllt. Wenn daher eine gewiſſe Claſſe von Perſonen ihre eigentliche Beſtimmung und Bedeutung nur von au- ßen her erhaͤlt, und ſich in ihrer Thaͤtigkeit nur einer hoͤheren Anfor- derung dienſtbar zeigt, ſo iſt ſie nicht zu den Staͤnden im en- geren juriſtiſchen Sinne zu rechnen. Dieſer Geſichtspunct iſt namentlich in Beziehung auf die Staatsbeamten feſt zu hal- ten; er kommt aber auch bei andern Perſonen, welche einem beſtimmten Beruf nachgehen, und durch ihre Beſchaͤftigung zu einer gewiſſen Gemeinſchaft verbunden ſind, alſo bei den Kuͤnſt- lern, Gelehrten, Aerzten u. ſ. w. in Betracht.
4. Dieſes ſelbſtaͤndige Lebensprincip, welches die einzel- nen Staͤnde beherrſcht, ruft auch das beſtimmte, abgeſonderte Intereſſe hervor, welches ſie in ihrer allgemeinen Richtung und mit den ihnen eigenthuͤmlichen Inſtitutionen verfolgen; es begruͤndet ferner die abgeſchloſſene Haltung, welche ſie un- ter einander und der uͤbrigen Bevoͤlkerung gegenuͤber einneh- men, und die ſich ganz von ſelbſt geltend macht, ſo bald es ſich nicht von dem einzelnen Mitgliede als ſolchem, ſondern von dem Stande als Ganzes betrachtet, handelt.
Faſſen wir nun in dieſem engeren Sinn den Begriff eines Standes auf, und betrachten wir dann unbefangen das deutſche Volk in ſeiner gegenwaͤrtigen ſocialen und politiſchen Verfaſſung, ſo wird ſich wohl bald ergeben, daß von einem conſequent durchgebildeten Staͤndeweſen in ſeiner ſchroffen Ab- ſonderung nicht mehr die Rede ſeyn kann. Dieſe Form der Rechtsbildung, welche ſich im ſpaͤteren Mittelalter entwickelte,
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Das Volksrecht als gemeines Staͤnderecht.
3. Zur naͤheren Begriffsbeſtimmung eines Standes iſt ferner
noch das Merkmal hinzuzunehmen, daß er ein ſelbſtaͤndiges Le-bensprincip in ſich traͤgt, und mit dieſem die beſondere Sphaͤre in
welcher er ſich bewegt, ausfuͤllt. Wenn daher eine gewiſſe Claſſe von
Perſonen ihre eigentliche Beſtimmung und Bedeutung nur von au-
ßen her erhaͤlt, und ſich in ihrer Thaͤtigkeit nur einer hoͤheren Anfor-
derung dienſtbar zeigt, ſo iſt ſie nicht zu den Staͤnden im en-
geren juriſtiſchen Sinne zu rechnen. Dieſer Geſichtspunct iſt
namentlich in Beziehung auf die Staatsbeamten feſt zu hal-
ten; er kommt aber auch bei andern Perſonen, welche einem
beſtimmten Beruf nachgehen, und durch ihre Beſchaͤftigung zu
einer gewiſſen Gemeinſchaft verbunden ſind, alſo bei den Kuͤnſt-
lern, Gelehrten, Aerzten u. ſ. w. in Betracht.
4. Dieſes ſelbſtaͤndige Lebensprincip, welches die einzel-
nen Staͤnde beherrſcht, ruft auch das beſtimmte, abgeſonderte
Intereſſe hervor, welches ſie in ihrer allgemeinen Richtung
und mit den ihnen eigenthuͤmlichen Inſtitutionen verfolgen;
es begruͤndet ferner die abgeſchloſſene Haltung, welche ſie un-
ter einander und der uͤbrigen Bevoͤlkerung gegenuͤber einneh-
men, und die ſich ganz von ſelbſt geltend macht, ſo bald es
ſich nicht von dem einzelnen Mitgliede als ſolchem, ſondern
von dem Stande als Ganzes betrachtet, handelt.
Faſſen wir nun in dieſem engeren Sinn den Begriff
eines Standes auf, und betrachten wir dann unbefangen das
deutſche Volk in ſeiner gegenwaͤrtigen ſocialen und politiſchen
Verfaſſung, ſo wird ſich wohl bald ergeben, daß von einem
conſequent durchgebildeten Staͤndeweſen in ſeiner ſchroffen Ab-
ſonderung nicht mehr die Rede ſeyn kann. Dieſe Form der
Rechtsbildung, welche ſich im ſpaͤteren Mittelalter entwickelte,
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Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_volksrecht_1843/209>, abgerufen am 23.11.2024.
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