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Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843.

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Zehntes Kapitel.
recht sich bloß aus den Präjudicaten ableiten lasse. Diese sind
für den Zweck, um den es sich hier handelt, nichts anders,
als Zeugnisse von der juristischen Ueberzeugung der Majorität
eines bestimmten Gerichts, und haben häufiger ihren Grund
in der schon früher ausgebildeten Theorie, als daß sie umge-
kehrt diese hervorrufen, obgleich hier natürlich eine lebendige
Wechselwirkung zwischen der Rechtslehre und der Rechtsan-
wendung besteht, welche sich gegenseitig befestigen und bestim-
men. In andern Staaten, namentlich in Frankreich und Eng-
land, haben allerdings die Präjudicate der obern Gerichtshöfe
einen größeren und mehr unmittelbaren Einfluß auf die Rechts-
bildung gewonnen, als vom Standpunct des gemeinen Rechts
aus für Deutschland zugegeben werden kann; selbst die Auc-
torität der Reichsgerichte ist auch in dieser Hinsicht immer nur
eine beschränkte geblieben, obgleich die Gesetzgebung entschieden
darauf hin zu wirken suchte, in ihnen einen Mittelpunct für die
einheitliche Entwicklung des gemeinen Rechts zu begründen.
Aber die Religionsstreitigkeiten, die vielen Exemtionen, die all-
mälige Auflösung der Reichsverfassung und überhaupt die
thatsächlich so wenig würdige und erfolgreiche Stellung na-
mentlich des Reichskammergerichts, welches den Verfall des
nationalen Wesens nur zu treu in sich abspiegelte, -- diese
Gründe ließen es nicht zu einer bindenden Kraft der reichsge-
richtlichen Präjudicate kommen, für deren regelmäßige Veröf-
fentlichung auch nicht einmal gesorgt war. Ich wüßte in der
That keine einzige Lehre zu nennen, welche dadurch ihre defi-
nitive Feststellung erlangt hätte; nur die Reception des römi-
schen Rechts ist, wie früher gezeigt worden, durch das Reichs-
kammergericht wesentlich befördert worden, aber mehr in Folge
eines allmälig wirkenden Einflusses, als durch die Kraft be-

Zehntes Kapitel.
recht ſich bloß aus den Praͤjudicaten ableiten laſſe. Dieſe ſind
fuͤr den Zweck, um den es ſich hier handelt, nichts anders,
als Zeugniſſe von der juriſtiſchen Ueberzeugung der Majoritaͤt
eines beſtimmten Gerichts, und haben haͤufiger ihren Grund
in der ſchon fruͤher ausgebildeten Theorie, als daß ſie umge-
kehrt dieſe hervorrufen, obgleich hier natuͤrlich eine lebendige
Wechſelwirkung zwiſchen der Rechtslehre und der Rechtsan-
wendung beſteht, welche ſich gegenſeitig befeſtigen und beſtim-
men. In andern Staaten, namentlich in Frankreich und Eng-
land, haben allerdings die Praͤjudicate der obern Gerichtshoͤfe
einen groͤßeren und mehr unmittelbaren Einfluß auf die Rechts-
bildung gewonnen, als vom Standpunct des gemeinen Rechts
aus fuͤr Deutſchland zugegeben werden kann; ſelbſt die Auc-
toritaͤt der Reichsgerichte iſt auch in dieſer Hinſicht immer nur
eine beſchraͤnkte geblieben, obgleich die Geſetzgebung entſchieden
darauf hin zu wirken ſuchte, in ihnen einen Mittelpunct fuͤr die
einheitliche Entwicklung des gemeinen Rechts zu begruͤnden.
Aber die Religionsſtreitigkeiten, die vielen Exemtionen, die all-
maͤlige Aufloͤſung der Reichsverfaſſung und uͤberhaupt die
thatſaͤchlich ſo wenig wuͤrdige und erfolgreiche Stellung na-
mentlich des Reichskammergerichts, welches den Verfall des
nationalen Weſens nur zu treu in ſich abſpiegelte, — dieſe
Gruͤnde ließen es nicht zu einer bindenden Kraft der reichsge-
richtlichen Praͤjudicate kommen, fuͤr deren regelmaͤßige Veroͤf-
fentlichung auch nicht einmal geſorgt war. Ich wuͤßte in der
That keine einzige Lehre zu nennen, welche dadurch ihre defi-
nitive Feſtſtellung erlangt haͤtte; nur die Reception des roͤmi-
ſchen Rechts iſt, wie fruͤher gezeigt worden, durch das Reichs-
kammergericht weſentlich befoͤrdert worden, aber mehr in Folge
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[310/0322] Zehntes Kapitel. recht ſich bloß aus den Praͤjudicaten ableiten laſſe. Dieſe ſind fuͤr den Zweck, um den es ſich hier handelt, nichts anders, als Zeugniſſe von der juriſtiſchen Ueberzeugung der Majoritaͤt eines beſtimmten Gerichts, und haben haͤufiger ihren Grund in der ſchon fruͤher ausgebildeten Theorie, als daß ſie umge- kehrt dieſe hervorrufen, obgleich hier natuͤrlich eine lebendige Wechſelwirkung zwiſchen der Rechtslehre und der Rechtsan- wendung beſteht, welche ſich gegenſeitig befeſtigen und beſtim- men. In andern Staaten, namentlich in Frankreich und Eng- land, haben allerdings die Praͤjudicate der obern Gerichtshoͤfe einen groͤßeren und mehr unmittelbaren Einfluß auf die Rechts- bildung gewonnen, als vom Standpunct des gemeinen Rechts aus fuͤr Deutſchland zugegeben werden kann; ſelbſt die Auc- toritaͤt der Reichsgerichte iſt auch in dieſer Hinſicht immer nur eine beſchraͤnkte geblieben, obgleich die Geſetzgebung entſchieden darauf hin zu wirken ſuchte, in ihnen einen Mittelpunct fuͤr die einheitliche Entwicklung des gemeinen Rechts zu begruͤnden. Aber die Religionsſtreitigkeiten, die vielen Exemtionen, die all- maͤlige Aufloͤſung der Reichsverfaſſung und uͤberhaupt die thatſaͤchlich ſo wenig wuͤrdige und erfolgreiche Stellung na- mentlich des Reichskammergerichts, welches den Verfall des nationalen Weſens nur zu treu in ſich abſpiegelte, — dieſe Gruͤnde ließen es nicht zu einer bindenden Kraft der reichsge- richtlichen Praͤjudicate kommen, fuͤr deren regelmaͤßige Veroͤf- fentlichung auch nicht einmal geſorgt war. Ich wuͤßte in der That keine einzige Lehre zu nennen, welche dadurch ihre defi- nitive Feſtſtellung erlangt haͤtte; nur die Reception des roͤmi- ſchen Rechts iſt, wie fruͤher gezeigt worden, durch das Reichs- kammergericht weſentlich befoͤrdert worden, aber mehr in Folge eines allmaͤlig wirkenden Einfluſſes, als durch die Kraft be-

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Zitationshilfe: Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_volksrecht_1843/322>, abgerufen am 24.11.2024.