p1b_102.001 Man bemerke == tragische Schuld in Schillers Braut von Messina:
p1b_102.002 Jsabella. Alles dies
p1b_102.003
Erleid' ich schuldlos; doch bei Ehren bleibenp1b_102.004 Die Ornakel und gerettet sind die Götter.
p1b_102.005 Franz Moors ethische, Don Carlos' ethische, Antigones tragischep1b_102.006 Schuld &c. dienen zur näheren Bestimmung des Begriffs als Beispiele.
p1b_102.007 4. Das Komische.
p1b_102.008 1. Vischer hat für den Ausbau seines Systems das Komische p1b_102.009 als Gegensatz des Erhabenen dargestellt, während es - meines Erachtens p1b_102.010 - nur der Gegensatz der Unterart des Erhabenen: des Tragischen p1b_102.011 ist. Dem Begriffe nach ist es (nach Kant) die Verwandlung p1b_102.012 einer gespannten Erwartung in Nichts. 2. Es zeigt sich als Naives, p1b_102.013 Groteskes, Witz, Humor. 3. Seine Hauptdomäne ist die Posse. p1b_102.014 4. Eine Unterart ist das Niedrigkomische. 5. Es zeigt sich auch in p1b_102.015 andern Künsten, z. B. in der Musik.
p1b_102.016 1. Wenn zwei Kräfte gegen einander kämpfen, wie es bei Hervorrufung p1b_102.017 der tragischen Wirkung der Fall ist (vgl. § 25. 3. f. 2), und der Ausgang p1b_102.018 des Kampfes und der Anstrengung ist ein leeres Nichts, so wirkt dies p1b_102.019 komisch; besonders dann, wenn die Erwartung eine hochgespannte war. p1b_102.020 Die zum Sprichwort gewordene Formel für das Komische giebt das Horazische: p1b_102.021 Parturiunt montes, nascetur ridiculus mus. (Die Berge kreisen und p1b_102.022 geboren wird eine lächerliche Maus, s. Hor. A. P. V. 139.) Man denke p1b_102.023 an zwei, die mit Energie sich bekämpfen und sich auf den Boden werfen, dann p1b_102.024 davon gehen - der eine hinkend sich die Hüften reibend, der andere das p1b_102.025 beschmutzte Kleidungsstück betrachtend oder reinigend. Es tritt hier der plötzliche p1b_102.026 Umschlag in das Gegenteil der Empfindung ein: Die komische Wirkung.p1b_102.027 Ein anderes Beispiel komischer Wirkung ist der pathetische Redner, der uns die p1b_102.028 Macht des Willens beweist und plötzlich in's Husten, Niesen oder Lachen verfällt. p1b_102.029 - Der Prahlende wirkt komisch, weil die Wirklichkeit der Erscheinung p1b_102.030 im Kontrast mit seinem Gemälde, mit seiner Einbildung steht. Der Betrunkene, p1b_102.031 der Leidenschaftliche - sie erscheinen komisch durch die Ohnmacht in Ausführung p1b_102.032 einer bestimmten Absicht. Ein eklatantes Beispiel des Komischen ergiebt p1b_102.033 die mit einer Verlobung endigende arge Balgerei des Sempronius mit der p1b_102.034 Cyrilla in der vorletzten Scene des bekannten Scherzspiels Horribilicribrifaxp1b_102.035 von A. Gryphius. Jn Shakespeares Heinrich IV. findet sich eine ganze p1b_102.036 Stufenleiter von Formen des Komischen. Einer lacht über den andern, der p1b_102.037 Zuschauer am meisten.
p1b_102.038 Als Grund des körperlichen Lachens giebt Kant geistreich die getäuschte p1b_102.039 Hoffnung an. Unser Geist - so meint er - durchmißt den Raum zwischen p1b_102.040 dem Erwarteten und dem erhaltenen Nichts in gesteigerter, sich immerfort beschleunigender p1b_102.041 Thätigkeit, durch welche schließlich die Eingeweide afficiert werden, p1b_102.042 deren Vibration eben das Lachen hervorbringt. Daß diese Vibration der Eingeweide, p1b_102.043 dieses Lachen uns angenehm ist, uns belustigt, ist Nebensache, ja,
p1b_102.001 Man bemerke == tragische Schuld in Schillers Braut von Messina:
p1b_102.002 Jsabella. Alles dies
p1b_102.003
Erleid' ich schuldlos; doch bei Ehren bleibenp1b_102.004 D̆ie Ŏr̄ak̆el und gerettet sind die Götter.
p1b_102.005 Franz Moors ethische, Don Carlos' ethische, Antigones tragischep1b_102.006 Schuld &c. dienen zur näheren Bestimmung des Begriffs als Beispiele.
p1b_102.007 4. Das Komische.
p1b_102.008 1. Vischer hat für den Ausbau seines Systems das Komische p1b_102.009 als Gegensatz des Erhabenen dargestellt, während es ─ meines Erachtens p1b_102.010 ─ nur der Gegensatz der Unterart des Erhabenen: des Tragischen p1b_102.011 ist. Dem Begriffe nach ist es (nach Kant) die Verwandlung p1b_102.012 einer gespannten Erwartung in Nichts. 2. Es zeigt sich als Naives, p1b_102.013 Groteskes, Witz, Humor. 3. Seine Hauptdomäne ist die Posse. p1b_102.014 4. Eine Unterart ist das Niedrigkomische. 5. Es zeigt sich auch in p1b_102.015 andern Künsten, z. B. in der Musik.
p1b_102.016 1. Wenn zwei Kräfte gegen einander kämpfen, wie es bei Hervorrufung p1b_102.017 der tragischen Wirkung der Fall ist (vgl. § 25. 3. f. 2), und der Ausgang p1b_102.018 des Kampfes und der Anstrengung ist ein leeres Nichts, so wirkt dies p1b_102.019 komisch; besonders dann, wenn die Erwartung eine hochgespannte war. p1b_102.020 Die zum Sprichwort gewordene Formel für das Komische giebt das Horazische: p1b_102.021 Parturiunt montes, nascetur ridiculus mus. (Die Berge kreisen und p1b_102.022 geboren wird eine lächerliche Maus, s. Hor. A. P. V. 139.) Man denke p1b_102.023 an zwei, die mit Energie sich bekämpfen und sich auf den Boden werfen, dann p1b_102.024 davon gehen ─ der eine hinkend sich die Hüften reibend, der andere das p1b_102.025 beschmutzte Kleidungsstück betrachtend oder reinigend. Es tritt hier der plötzliche p1b_102.026 Umschlag in das Gegenteil der Empfindung ein: Die komische Wirkung.p1b_102.027 Ein anderes Beispiel komischer Wirkung ist der pathetische Redner, der uns die p1b_102.028 Macht des Willens beweist und plötzlich in's Husten, Niesen oder Lachen verfällt. p1b_102.029 ─ Der Prahlende wirkt komisch, weil die Wirklichkeit der Erscheinung p1b_102.030 im Kontrast mit seinem Gemälde, mit seiner Einbildung steht. Der Betrunkene, p1b_102.031 der Leidenschaftliche ─ sie erscheinen komisch durch die Ohnmacht in Ausführung p1b_102.032 einer bestimmten Absicht. Ein eklatantes Beispiel des Komischen ergiebt p1b_102.033 die mit einer Verlobung endigende arge Balgerei des Sempronius mit der p1b_102.034 Cyrilla in der vorletzten Scene des bekannten Scherzspiels Horribilicribrifaxp1b_102.035 von A. Gryphius. Jn Shakespeares Heinrich IV. findet sich eine ganze p1b_102.036 Stufenleiter von Formen des Komischen. Einer lacht über den andern, der p1b_102.037 Zuschauer am meisten.
p1b_102.038 Als Grund des körperlichen Lachens giebt Kant geistreich die getäuschte p1b_102.039 Hoffnung an. Unser Geist ─ so meint er ─ durchmißt den Raum zwischen p1b_102.040 dem Erwarteten und dem erhaltenen Nichts in gesteigerter, sich immerfort beschleunigender p1b_102.041 Thätigkeit, durch welche schließlich die Eingeweide afficiert werden, p1b_102.042 deren Vibration eben das Lachen hervorbringt. Daß diese Vibration der Eingeweide, p1b_102.043 dieses Lachen uns angenehm ist, uns belustigt, ist Nebensache, ja,
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D̆ie Ŏr̄ak̆el und gerettet sind die Götter.
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Franz Moors ethische, Don Carlos' ethische, Antigones tragische p1b_102.006
Schuld &c. dienen zur näheren Bestimmung des Begriffs als Beispiele.
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─ nur der Gegensatz der Unterart des Erhabenen: des Tragischen p1b_102.011
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Groteskes, Witz, Humor. 3. Seine Hauptdomäne ist die Posse. p1b_102.014
4. Eine Unterart ist das Niedrigkomische. 5. Es zeigt sich auch in p1b_102.015
andern Künsten, z. B. in der Musik.
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─ Der Prahlende wirkt komisch, weil die Wirklichkeit der Erscheinung p1b_102.030
im Kontrast mit seinem Gemälde, mit seiner Einbildung steht. Der Betrunkene, p1b_102.031
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von A. Gryphius. Jn Shakespeares Heinrich IV. findet sich eine ganze p1b_102.036
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Als Grund des körperlichen Lachens giebt Kant geistreich die getäuschte p1b_102.039
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dem Erwarteten und dem erhaltenen Nichts in gesteigerter, sich immerfort beschleunigender p1b_102.041
Thätigkeit, durch welche schließlich die Eingeweide afficiert werden, p1b_102.042
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/136>, abgerufen am 21.11.2024.
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