p1b_137.001 Soll ein Kunstwerk erblühen, so ist der Stellung der Worte besondere p1b_137.002 Rechnung zu tragen.
p1b_137.003 Eine kunstvolle Satzbildung (vgl. § 62), die z. B. nicht selten Nebensächliches p1b_137.004 zuerst bietet, das Objekt nach dem Zeitwort, das Adjektiv nach seinem p1b_137.005 Substantiv bringt, trennbare Präpositionen ungetrennt läßt, ist dem Dichter p1b_137.006 erlaubt, ja, sie zeigt eigentlich erst den auf der Höhe stehenden Poeten, der die p1b_137.007 deutsche Sprache wie sein Jnstrument zu spielen versteht, ohne unschön in seinem p1b_137.008 Produkt zu werden.
p1b_137.009 4. Verse, welche aus lauter einsilbigen Wörtern bestehen, sind dichterisch p1b_137.010 unschön, weil bei ihnen von den reizegebenden Einschnitten (§ 96) nicht die p1b_137.011 Rede sein kann, und weil das Betonungsgesetz bei diesen gleichmetrigenp1b_137.012 Wörtern in Widerstreit mit sich selbst gerät; z. B. Ehr, Macht, Ruhm, Glück, p1b_137.013 Gut mir paßt &c.
p1b_137.014 Diese Regel gilt auch in anderen Sprachen, z. B. im Französischen: Je p1b_137.015 vois le ciel si beau, si pur et net.
p1b_137.016 Beispiele einsilbiger Wörter:
p1b_137.017
a.
Jst man reich, wie bald vergißtp1b_137.018 Man, wer Gott und was man ist.
p1b_137.019
(Weiße.)
p1b_137.020
b.
Gott ist die Lieb', und läßt die Welt erlösen.
p1b_137.021
(Gellert.)
p1b_137.022
c.
Sag ihm: Weißt du, wie bald du wirst in Staub zerfallen.
p1b_137.023
(Rückert.)
p1b_137.024 (Ähnlich unschön: Ges. A. VIII. 544. Vgl. übrigens ebend. I. 398.)
p1b_137.025 Wie ganz anders wirken dagegen Verse wie diese:
p1b_137.026
Er stand auf seines Daches Zinnen,p1b_137.027 Er schaute mit vergnügten Sinnenp1b_137.028 Auf das beherrschte Samos hin.
p1b_137.029
(Schiller.)
p1b_137.030
§ 30. Das Schöne im Gebrauch des wichtigsten Ausschmückungs-Elements.
p1b_137.031
p1b_137.032 1. Das wichtigste Ausschmückungselement der poetischen Sprache p1b_137.033 für Erzielung der Sinnlichkeit und Lebendigkeit des Ausdrucks ist das p1b_137.034 Beiwort (Epitheton ornans). Es ist nötig, daß der Dichter das p1b_137.035 charakteristisch richtige, sinnlich malende Beiwort suche und wähle, welches p1b_137.036 der bedeutenden Grundvorstellung wirkungsvoll und unterstützend p1b_137.037 an die Seite zu treten vermag.
p1b_137.038 2. Das Beiwort verrät den Dichter.
p1b_137.039 1. Nicht darf der Leser poetischer Gestaltungen gezwungen sein, wie in p1b_137.040 der wissenschaftlichen Prosa, durch langes Grübeln eine Reihe von Denkoperationen p1b_137.041 durchzumachen, weil dadurch der Verstand an Stelle der Phantasie
p1b_137.001 Soll ein Kunstwerk erblühen, so ist der Stellung der Worte besondere p1b_137.002 Rechnung zu tragen.
p1b_137.003 Eine kunstvolle Satzbildung (vgl. § 62), die z. B. nicht selten Nebensächliches p1b_137.004 zuerst bietet, das Objekt nach dem Zeitwort, das Adjektiv nach seinem p1b_137.005 Substantiv bringt, trennbare Präpositionen ungetrennt läßt, ist dem Dichter p1b_137.006 erlaubt, ja, sie zeigt eigentlich erst den auf der Höhe stehenden Poeten, der die p1b_137.007 deutsche Sprache wie sein Jnstrument zu spielen versteht, ohne unschön in seinem p1b_137.008 Produkt zu werden.
p1b_137.009 4. Verse, welche aus lauter einsilbigen Wörtern bestehen, sind dichterisch p1b_137.010 unschön, weil bei ihnen von den reizegebenden Einschnitten (§ 96) nicht die p1b_137.011 Rede sein kann, und weil das Betonungsgesetz bei diesen gleichmetrigenp1b_137.012 Wörtern in Widerstreit mit sich selbst gerät; z. B. Ehr, Macht, Ruhm, Glück, p1b_137.013 Gut mir paßt &c.
p1b_137.014 Diese Regel gilt auch in anderen Sprachen, z. B. im Französischen: Je p1b_137.015 vois le ciel si beau, si pur et net.
p1b_137.016 Beispiele einsilbiger Wörter:
p1b_137.017
a.
Jst man reich, wie bald vergißtp1b_137.018 Man, wer Gott und was man ist.
p1b_137.019
(Weiße.)
p1b_137.020
b.
Gott ist die Lieb', und läßt die Welt erlösen.
p1b_137.021
(Gellert.)
p1b_137.022
c.
Sag ihm: Weißt du, wie bald du wirst in Staub zerfallen.
p1b_137.023
(Rückert.)
p1b_137.024 (Ähnlich unschön: Ges. A. VIII. 544. Vgl. übrigens ebend. I. 398.)
p1b_137.025 Wie ganz anders wirken dagegen Verse wie diese:
p1b_137.026
Er stand auf seines Daches Zinnen,p1b_137.027 Er schaute mit vergnügten Sinnenp1b_137.028 Auf das beherrschte Samos hin.
p1b_137.029
(Schiller.)
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§ 30. Das Schöne im Gebrauch des wichtigsten Ausschmückungs-Elements.
p1b_137.031
p1b_137.032 1. Das wichtigste Ausschmückungselement der poetischen Sprache p1b_137.033 für Erzielung der Sinnlichkeit und Lebendigkeit des Ausdrucks ist das p1b_137.034 Beiwort (Epitheton ornans). Es ist nötig, daß der Dichter das p1b_137.035 charakteristisch richtige, sinnlich malende Beiwort suche und wähle, welches p1b_137.036 der bedeutenden Grundvorstellung wirkungsvoll und unterstützend p1b_137.037 an die Seite zu treten vermag.
p1b_137.038 2. Das Beiwort verrät den Dichter.
p1b_137.039 1. Nicht darf der Leser poetischer Gestaltungen gezwungen sein, wie in p1b_137.040 der wissenschaftlichen Prosa, durch langes Grübeln eine Reihe von Denkoperationen p1b_137.041 durchzumachen, weil dadurch der Verstand an Stelle der Phantasie
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Soll ein Kunstwerk erblühen, so ist der Stellung der Worte besondere p1b_137.002
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deutsche Sprache wie sein Jnstrument zu spielen versteht, ohne unschön in seinem p1b_137.008
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unschön, weil bei ihnen von den reizegebenden Einschnitten (§ 96) nicht die p1b_137.011
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Diese Regel gilt auch in anderen Sprachen, z. B. im Französischen: Je p1b_137.015
vois le ciel si beau, si pur et net.
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Beispiele einsilbiger Wörter:
p1b_137.017
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Jst man reich, wie bald vergißt p1b_137.018
Man, wer Gott und was man ist.
p1b_137.019
(Weiße.)
p1b_137.020
b.
Gott ist die Lieb', und läßt die Welt erlösen.
p1b_137.021
(Gellert.)
p1b_137.022
c.
Sag ihm: Weißt du, wie bald du wirst in Staub zerfallen.
p1b_137.023
(Rückert.)
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(Ähnlich unschön: Ges. A. VIII. 544. Vgl. übrigens ebend. I. 398.)
p1b_137.025
Wie ganz anders wirken dagegen Verse wie diese:
p1b_137.026
Er stand auf seines Daches Zinnen, p1b_137.027
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p1b_137.029
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p1b_137.030
§ 30. Das Schöne im Gebrauch des wichtigsten Ausschmückungs-Elements. p1b_137.031
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1. Das wichtigste Ausschmückungselement der poetischen Sprache p1b_137.033
für Erzielung der Sinnlichkeit und Lebendigkeit des Ausdrucks ist das p1b_137.034
Beiwort (Epitheton ornans). Es ist nötig, daß der Dichter das p1b_137.035
charakteristisch richtige, sinnlich malende Beiwort suche und wähle, welches p1b_137.036
der bedeutenden Grundvorstellung wirkungsvoll und unterstützend p1b_137.037
an die Seite zu treten vermag.
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2. Das Beiwort verrät den Dichter.
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1. Nicht darf der Leser poetischer Gestaltungen gezwungen sein, wie in p1b_137.040
der wissenschaftlichen Prosa, durch langes Grübeln eine Reihe von Denkoperationen p1b_137.041
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/171>, abgerufen am 24.11.2024.
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