p1b_179.001 Edeltanne "regenschwangere Nadelkissen" nennt. Ebenso, wenn v. Heyden im p1b_179.002 "Kampf der Hohenstaufen" von den "Tigerherden seiner Raserei" spricht; p1b_179.003 oder wenn Schiller im Fiesco ausrufen läßt: "Ach, hätt ich nur seinen p1b_179.004 Weltbau zwischen diesen Zähnen" u. s. w.; oder wenn H. Heine mit brennendem p1b_179.005 Fichtenstamme an das Himmelsgewölbe den Namen der Geliebten schreiben p1b_179.006 möchte. Die Übertreibung im Bild ist auch deshalb gewagt, weil sie leicht p1b_179.007 zur Katachresis führt.
p1b_179.008
Katachresis.
p1b_179.009 Man versteht unter Katachresen (katakhresis == Mißbrauch, unrechter p1b_179.010 Gebrauch der Bilder) jene Verstöße, bei welchen der Dichter p1b_179.011 aus einem Bilde in ein anderes, fremdes verfällt.
p1b_179.012 Die Vorschrift, im Bilde zu bleiben, sagt Vischer in seiner Ästhetik (Bd. III, p1b_179.013 Abschnitt 2, 1230) kann den echten Dichter nicht unbedingt binden. Wirkliche p1b_179.014 Verstöße, die man als sog. Katachresen zu den Sünden gegen den Geschmack p1b_179.015 rechnen muß, finden nur da statt, wo durch einen eigentümlichen Lapsus der p1b_179.016 Aufmerksamkeit aus einer Vergleichungs-Region in eine andere p1b_179.017 übergeschritten wird, die keine naturgemäße Verbindung mit der ersten p1b_179.018 zuläßt, oder wenn mit fühlbarer Absichtlichkeit ein Bild ausgesponnenp1b_179.019 und doch nur scheinbar festgehalten wird (vgl. Jean Pauls Vorsch. p1b_179.020 d. Ästh. § 51) - oder endlich wenn eine üppige Phantasie keine Grenzen mehr p1b_179.021 achtet und mit Kühnheiten, die bei richtigem Maß erlaubt wären,p1b_179.022 gar zu freigebig ist, wie die romantische mit ihren ewigen klingenden Farben, p1b_179.023 duftenden Tönen, singenden Blumen u. s. w. Die Grenzlinie, hinter welcher p1b_179.024 für die Übergänge aus einem Bilde in das andere das Abgeschmackte p1b_179.025 beginnt, ist freilich zart, und es läßt sich darüber im Allgemeinen nicht mehr p1b_179.026 bestimmen, als daß der Akt des Vergleichens in seinem Wesen immer ein p1b_179.027 einfacher Wurf der Phantasie bleiben muß, nie in ein Festrennen und Zerren p1b_179.028 übergehen darf, denn dies fordert den Verstand heraus, der den Schein höhnisch p1b_179.029 aufhebt. Shakespeare hat bekanntlich in seiner jugendlichen Periode jenem abgeschmackten p1b_179.030 Modeton seiner Zeit, den man Euphuismus nannte, nicht geringen p1b_179.031 Tribut gezahlt; doch ist nicht zu übersehen, daß manche besonders seltsame p1b_179.032 Bilder, die in dies Gebiet gehören, mit dem offenbaren Bewußtsein überkühner p1b_179.033 Hyperbeln gebraucht sind, die einen besonders starken und tiefen Affekt p1b_179.034 bezeichnen sollen. (Vischer weist nach, daß manche von der Phantasielosigkeit p1b_179.035 für geschmacklos erklärte Bilder Shakespeares nicht nur keiner Entschuldigung p1b_179.036 bedürfen, sondern vielmehr die höchste Bewunderung verdienen. a. a. O. p1b_179.037 S. 1232 ff.)
p1b_179.038 Sofern die Katachrese mit fühlbarer Absichtlichkeit behufs Erreichung einer p1b_179.039 bestimmten Wirkung aus einem Bild in ein anderes planvoll übergeht, kann p1b_179.040 man sie als einen berechtigten Tropus auffassen.
p1b_179.041 Wenn z. B. Rückert in den Makamen S. 125 sagt: "Abu Seid war p1b_179.042 weggeweht mit den Heuschrecken", so ist es selbstredend, daß vom Wegwehen
p1b_179.001 Edeltanne „regenschwangere Nadelkissen“ nennt. Ebenso, wenn v. Heyden im p1b_179.002 „Kampf der Hohenstaufen“ von den „Tigerherden seiner Raserei“ spricht; p1b_179.003 oder wenn Schiller im Fiesco ausrufen läßt: „Ach, hätt ich nur seinen p1b_179.004 Weltbau zwischen diesen Zähnen“ u. s. w.; oder wenn H. Heine mit brennendem p1b_179.005 Fichtenstamme an das Himmelsgewölbe den Namen der Geliebten schreiben p1b_179.006 möchte. Die Übertreibung im Bild ist auch deshalb gewagt, weil sie leicht p1b_179.007 zur Katachresis führt.
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Katachresis.
p1b_179.009 Man versteht unter Katachresen (κατάχρησις == Mißbrauch, unrechter p1b_179.010 Gebrauch der Bilder) jene Verstöße, bei welchen der Dichter p1b_179.011 aus einem Bilde in ein anderes, fremdes verfällt.
p1b_179.012 Die Vorschrift, im Bilde zu bleiben, sagt Vischer in seiner Ästhetik (Bd. III, p1b_179.013 Abschnitt 2, 1230) kann den echten Dichter nicht unbedingt binden. Wirkliche p1b_179.014 Verstöße, die man als sog. Katachresen zu den Sünden gegen den Geschmack p1b_179.015 rechnen muß, finden nur da statt, wo durch einen eigentümlichen Lapsus der p1b_179.016 Aufmerksamkeit aus einer Vergleichungs-Region in eine andere p1b_179.017 übergeschritten wird, die keine naturgemäße Verbindung mit der ersten p1b_179.018 zuläßt, oder wenn mit fühlbarer Absichtlichkeit ein Bild ausgesponnenp1b_179.019 und doch nur scheinbar festgehalten wird (vgl. Jean Pauls Vorsch. p1b_179.020 d. Ästh. § 51) ─ oder endlich wenn eine üppige Phantasie keine Grenzen mehr p1b_179.021 achtet und mit Kühnheiten, die bei richtigem Maß erlaubt wären,p1b_179.022 gar zu freigebig ist, wie die romantische mit ihren ewigen klingenden Farben, p1b_179.023 duftenden Tönen, singenden Blumen u. s. w. Die Grenzlinie, hinter welcher p1b_179.024 für die Übergänge aus einem Bilde in das andere das Abgeschmackte p1b_179.025 beginnt, ist freilich zart, und es läßt sich darüber im Allgemeinen nicht mehr p1b_179.026 bestimmen, als daß der Akt des Vergleichens in seinem Wesen immer ein p1b_179.027 einfacher Wurf der Phantasie bleiben muß, nie in ein Festrennen und Zerren p1b_179.028 übergehen darf, denn dies fordert den Verstand heraus, der den Schein höhnisch p1b_179.029 aufhebt. Shakespeare hat bekanntlich in seiner jugendlichen Periode jenem abgeschmackten p1b_179.030 Modeton seiner Zeit, den man Euphuismus nannte, nicht geringen p1b_179.031 Tribut gezahlt; doch ist nicht zu übersehen, daß manche besonders seltsame p1b_179.032 Bilder, die in dies Gebiet gehören, mit dem offenbaren Bewußtsein überkühner p1b_179.033 Hyperbeln gebraucht sind, die einen besonders starken und tiefen Affekt p1b_179.034 bezeichnen sollen. (Vischer weist nach, daß manche von der Phantasielosigkeit p1b_179.035 für geschmacklos erklärte Bilder Shakespeares nicht nur keiner Entschuldigung p1b_179.036 bedürfen, sondern vielmehr die höchste Bewunderung verdienen. a. a. O. p1b_179.037 S. 1232 ff.)
p1b_179.038 Sofern die Katachrese mit fühlbarer Absichtlichkeit behufs Erreichung einer p1b_179.039 bestimmten Wirkung aus einem Bild in ein anderes planvoll übergeht, kann p1b_179.040 man sie als einen berechtigten Tropus auffassen.
p1b_179.041 Wenn z. B. Rückert in den Makamen S. 125 sagt: „Abu Seid war p1b_179.042 weggeweht mit den Heuschrecken“, so ist es selbstredend, daß vom Wegwehen
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Fichtenstamme an das Himmelsgewölbe den Namen der Geliebten schreiben p1b_179.006
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Man versteht unter Katachresen (κατάχρησις == Mißbrauch, unrechter p1b_179.010
Gebrauch der Bilder) jene Verstöße, bei welchen der Dichter p1b_179.011
aus einem Bilde in ein anderes, fremdes verfällt.
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Die Vorschrift, im Bilde zu bleiben, sagt Vischer in seiner Ästhetik (Bd. III, p1b_179.013
Abschnitt 2, 1230) kann den echten Dichter nicht unbedingt binden. Wirkliche p1b_179.014
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rechnen muß, finden nur da statt, wo durch einen eigentümlichen Lapsus der p1b_179.016
Aufmerksamkeit aus einer Vergleichungs-Region in eine andere p1b_179.017
übergeschritten wird, die keine naturgemäße Verbindung mit der ersten p1b_179.018
zuläßt, oder wenn mit fühlbarer Absichtlichkeit ein Bild ausgesponnen p1b_179.019
und doch nur scheinbar festgehalten wird (vgl. Jean Pauls Vorsch. p1b_179.020
d. Ästh. § 51) ─ oder endlich wenn eine üppige Phantasie keine Grenzen mehr p1b_179.021
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Tribut gezahlt; doch ist nicht zu übersehen, daß manche besonders seltsame p1b_179.032
Bilder, die in dies Gebiet gehören, mit dem offenbaren Bewußtsein überkühner p1b_179.033
Hyperbeln gebraucht sind, die einen besonders starken und tiefen Affekt p1b_179.034
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für geschmacklos erklärte Bilder Shakespeares nicht nur keiner Entschuldigung p1b_179.036
bedürfen, sondern vielmehr die höchste Bewunderung verdienen. a. a. O. p1b_179.037
S. 1232 ff.)
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Sofern die Katachrese mit fühlbarer Absichtlichkeit behufs Erreichung einer p1b_179.039
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/213>, abgerufen am 21.11.2024.
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