p1b_466.001 Es hieße entschieden zu weit gehen, wenn man im Hinblick auf Rückerts p1b_466.002 Beispiel verlangen wollte, daß in den Reimwörtern die Genauigkeit bei allen p1b_466.003 Buchstaben peinlich genau durchzuführen sei. Der Reim ist für das Ohr und p1b_466.004 nicht für das Auge bestimmt. Jn der Aussprache ist zuweilen der weiche Laut p1b_466.005 so verhärtet, daß er mit dem harten ganz gut reimt (z. B. Preis - Fleiß, p1b_466.006 Loos - groß, Gras - Fraß, Magd - sagt, Mord - Wort, sehr - Meer, p1b_466.007 Plus - Kuß, Tag - nach &c.).
p1b_466.008 Daher kommt es, daß viele Reime, welche in der Schreibung unrein p1b_466.009 erscheinen, in der Aussprache rein sind und somit in beschränktem Maße gestattet p1b_466.010 werden können: a. in Hinsicht auf die Aussprache ihrer Vokale und Konsonanten p1b_466.011 in der hochdeutschen Sprache, b. in gleicher Beziehung im Dialekt.
p1b_466.012 a. Jm Hinblick auf die Aussprache im Hochdeutschen.
p1b_466.013 Als rein kann der Reim angesehen werden, wenn sich die Aussprache der p1b_466.014 reimenden Vokale und Konsonanten deckt. Dies ist häufig der Fall in den p1b_466.015 Ähnlichkeitslauten:
p1b_466.016 ä - e. Hier kommt die verschiedene Aussprache unseres e in Betracht, p1b_466.017 die selbst in dem gleichen Worte prinzipiell verschieden sein kann, z. B. in lehren. p1b_466.018 Es kann daher ausnahmsweise reimen: Gräten - beten. Aus dem gleichen p1b_466.019 Grunde ist nähren - leeren reiner als wehren - leeren. (Dialektisch wird p1b_466.020 dieses Wort verschieden behandelt, bald wie französisch e, bald wie e. Dies p1b_466.021 gilt noch mehr von lehren [goth. laisjar], das z. B. die Franken ganz anders p1b_466.022 sprechen, als die Altbayern, welch letztere bekanntlich "aales" oder wenigstens p1b_466.023 "villes gedennt" aussprechen, was wir schärfen und umgekehrt.)
p1b_466.024 eu - äu, also rein z. B. freun - dräun.
p1b_466.025 ai - ei, z. B. Hain - rein.
p1b_466.026 äh - e, z. B. Zähre - Cythere.
p1b_466.027 äh - ee, z. B. Ähre - Leere.
p1b_466.028 v - ph, z. B. Levir - Zephyr.
p1b_466.029 s - ß, z. B. Rose - große.
p1b_466.030 b - p, z. B. Abt - tappt.
p1b_466.031 d - t, z. B. scheiden - begleiten.
p1b_466.032 g - ch, z. B. Zweig - Reich.
p1b_466.033 bt - pt, z. B. erlaubt - Haupt (vom mhd. Houbet).
p1b_466.034 b. Jm Hinblick auf die Aussprache im Dialekt.
p1b_466.035 Die Gelegenheitsreime namentlich in komischen Poesien dürfen sich selbstredend p1b_466.036 mehr nach der provinziellen Aussprache richten. So reimt man z. B. p1b_466.037 in Meißen so:
p1b_466.038
"Man höret von den Schwedenp1b_466.039 Noch da und dorten reden."
p1b_466.040 Jn Schlesien aber reimt man so:
p1b_466.041
Man hört in allen Lädenp1b_466.042 Von deiner Tochter reden (räden).
p1b_466.043 Brockes (in Weichmanns Poesie der Niedersachsen I. 2, Hamburg 1722)
p1b_466.001 Es hieße entschieden zu weit gehen, wenn man im Hinblick auf Rückerts p1b_466.002 Beispiel verlangen wollte, daß in den Reimwörtern die Genauigkeit bei allen p1b_466.003 Buchstaben peinlich genau durchzuführen sei. Der Reim ist für das Ohr und p1b_466.004 nicht für das Auge bestimmt. Jn der Aussprache ist zuweilen der weiche Laut p1b_466.005 so verhärtet, daß er mit dem harten ganz gut reimt (z. B. Preis ─ Fleiß, p1b_466.006 Loos ─ groß, Gras ─ Fraß, Magd ─ sagt, Mord ─ Wort, sehr ─ Meer, p1b_466.007 Plus ─ Kuß, Tag ─ nach &c.).
p1b_466.008 Daher kommt es, daß viele Reime, welche in der Schreibung unrein p1b_466.009 erscheinen, in der Aussprache rein sind und somit in beschränktem Maße gestattet p1b_466.010 werden können: a. in Hinsicht auf die Aussprache ihrer Vokale und Konsonanten p1b_466.011 in der hochdeutschen Sprache, b. in gleicher Beziehung im Dialekt.
p1b_466.012 a. Jm Hinblick auf die Aussprache im Hochdeutschen.
p1b_466.013 Als rein kann der Reim angesehen werden, wenn sich die Aussprache der p1b_466.014 reimenden Vokale und Konsonanten deckt. Dies ist häufig der Fall in den p1b_466.015 Ähnlichkeitslauten:
p1b_466.016 ä ─ e. Hier kommt die verschiedene Aussprache unseres e in Betracht, p1b_466.017 die selbst in dem gleichen Worte prinzipiell verschieden sein kann, z. B. in lehren. p1b_466.018 Es kann daher ausnahmsweise reimen: Gräten ─ beten. Aus dem gleichen p1b_466.019 Grunde ist nähren ─ leeren reiner als wehren ─ leeren. (Dialektisch wird p1b_466.020 dieses Wort verschieden behandelt, bald wie französisch é, bald wie è. Dies p1b_466.021 gilt noch mehr von lehren [goth. laisjar], das z. B. die Franken ganz anders p1b_466.022 sprechen, als die Altbayern, welch letztere bekanntlich „aales“ oder wenigstens p1b_466.023 „villes gedennt“ aussprechen, was wir schärfen und umgekehrt.)
p1b_466.024 eu ─ äu, also rein z. B. freun ─ dräun.
p1b_466.025 ai ─ ei, z. B. Hain ─ rein.
p1b_466.026 äh ─ e, z. B. Zähre ─ Cythere.
p1b_466.027 äh ─ ee, z. B. Ähre ─ Leere.
p1b_466.028 v ─ ph, z. B. Levir ─ Zephyr.
p1b_466.029 s ─ ß, z. B. Rose ─ große.
p1b_466.030 b ─ p, z. B. Abt ─ tappt.
p1b_466.031 d ─ t, z. B. scheiden ─ begleiten.
p1b_466.032 g ─ ch, z. B. Zweig ─ Reich.
p1b_466.033 bt ─ pt, z. B. erlaubt ─ Haupt (vom mhd. Houbet).
p1b_466.034 b. Jm Hinblick auf die Aussprache im Dialekt.
p1b_466.035 Die Gelegenheitsreime namentlich in komischen Poesien dürfen sich selbstredend p1b_466.036 mehr nach der provinziellen Aussprache richten. So reimt man z. B. p1b_466.037 in Meißen so:
p1b_466.038
„Man höret von den Schwedenp1b_466.039 Noch da und dorten reden.“
p1b_466.040 Jn Schlesien aber reimt man so:
p1b_466.041
Man hört in allen Lädenp1b_466.042 Von deiner Tochter reden (räden).
p1b_466.043 Brockes (in Weichmanns Poesie der Niedersachsen I. 2, Hamburg 1722)
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Beispiel verlangen wollte, daß in den Reimwörtern die Genauigkeit bei allen p1b_466.003
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nicht für das Auge bestimmt. Jn der Aussprache ist zuweilen der weiche Laut p1b_466.005
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Daher kommt es, daß viele Reime, welche in der Schreibung unrein p1b_466.009
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in der hochdeutschen Sprache, b. in gleicher Beziehung im Dialekt.
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a. Jm Hinblick auf die Aussprache im Hochdeutschen.
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Als rein kann der Reim angesehen werden, wenn sich die Aussprache der p1b_466.014
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Ähnlichkeitslauten:
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eu ─ äu, also rein z. B. freun ─ dräun.
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ai ─ ei, z. B. Hain ─ rein.
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p1b_466.034
b. Jm Hinblick auf die Aussprache im Dialekt.
p1b_466.035
Die Gelegenheitsreime namentlich in komischen Poesien dürfen sich selbstredend p1b_466.036
mehr nach der provinziellen Aussprache richten. So reimt man z. B. p1b_466.037
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p1b_466.038
„Man höret von den Schweden p1b_466.039
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p1b_466.041
Man hört in allen Läden p1b_466.042
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 466. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/500>, abgerufen am 22.11.2024.
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