Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.p1b_550.001 Gleichwie des Nachts ein Licht in einem Hafen p1b_550.002 Vom hohen Meer erblickt Schiff oder Nachen, p1b_550.003 Wenn Stürm' es ihm nicht rauben oder Klippen, p1b_550.004 So sah ich über dem geschwellten Segel p1b_550.005 Die Fahnen weh'n von jenem andern Leben, p1b_550.006 Und tief erseufzt' ich da nach meinem Ende. p1b_550.007 Nicht daß ich hätte schon erreicht das Ende; p1b_550.008 Denn gern wär' mit dem Tag ich in dem Hafen; p1b_550.009 Und lang ist solche Fahrt für's kurze Leben. p1b_550.010 Auch seh' ich bang mich in so morschem Nachen, p1b_550.011 Und voller, als ich wollte, schwillt das Segel p1b_550.012 Vom Wind, der mich verschlug in diese Klippen. p1b_550.013 Entrinne lebend ich den falschen Klippen, p1b_550.014 Und nimmt mein Elend noch ein schönes Ende, p1b_550.015 Wie eilig wollt' ich wenden dann das Segel p1b_550.016 Und ankernd ruh'n in irgend einem Hafen, p1b_550.017 Verglüh' ich nicht gleich angebranntem Nachen! p1b_550.018 So ungern laß ich das gewohnte Leben. p1b_550.019 Du, Herr, von meinem Ende, meinem Leben, p1b_550.020 Bevor mein Nachen scheitert unter Klippen, p1b_550.021 Führ' gutem Hafen zu mein müdes Segel. p1b_550.022 § 169. Die Oktave oder Stanze. p1b_550.023 p1b_550.031 p1b_550.034 p1b_550.035 p1b_550.042 p1b_550.001 Gleichwie des Nachts ein Licht in einem Hafen p1b_550.002 Vom hohen Meer erblickt Schiff oder Nachen, p1b_550.003 Wenn Stürm' es ihm nicht rauben oder Klippen, p1b_550.004 So sah ich über dem geschwellten Segel p1b_550.005 Die Fahnen weh'n von jenem andern Leben, p1b_550.006 Und tief erseufzt' ich da nach meinem Ende. p1b_550.007 Nicht daß ich hätte schon erreicht das Ende; p1b_550.008 Denn gern wär' mit dem Tag ich in dem Hafen; p1b_550.009 Und lang ist solche Fahrt für's kurze Leben. p1b_550.010 Auch seh' ich bang mich in so morschem Nachen, p1b_550.011 Und voller, als ich wollte, schwillt das Segel p1b_550.012 Vom Wind, der mich verschlug in diese Klippen. p1b_550.013 Entrinne lebend ich den falschen Klippen, p1b_550.014 Und nimmt mein Elend noch ein schönes Ende, p1b_550.015 Wie eilig wollt' ich wenden dann das Segel p1b_550.016 Und ankernd ruh'n in irgend einem Hafen, p1b_550.017 Verglüh' ich nicht gleich angebranntem Nachen! p1b_550.018 So ungern laß ich das gewohnte Leben. p1b_550.019 Du, Herr, von meinem Ende, meinem Leben, p1b_550.020 Bevor mein Nachen scheitert unter Klippen, p1b_550.021 Führ' gutem Hafen zu mein müdes Segel. p1b_550.022 § 169. 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Jm Gegensatz zu Platen, der ihre <lb n="p1b_550.027"/> klappernde Monotonie tadeln zu müssen glaubte, ─ hat Hermann Lingg <lb n="p1b_550.028"/> diese Strophe nicht mit Unrecht die <hi rendition="#g">Königin der Strophen</hi> genannt. <lb n="p1b_550.029"/> Sie besteht in der Regel aus 8 fünftaktigen jambischen Vers-Zeilen, <lb n="p1b_550.030"/> von denen die sechs ersten alternierend, die zwei letzten paarweise reimen.</p> <p><lb n="p1b_550.031"/> Durch den Gleichklang der letzten Zeilen entsteht eine schöne harmonische <lb n="p1b_550.032"/> Reimabwechslung, ein wohlklingender charakteristischer Schluß. <lb n="p1b_550.033"/> (Es giebt auch Oktavenkränze. Vgl. Schluß von § 165. S. 543.)</p> <p><lb n="p1b_550.034"/> Reimschema: <hi rendition="#aq">a b a b a b c c</hi>.</p> <p><lb n="p1b_550.035"/> Die acht Zeilen der Strophe gliedern sich durch Reim und Sinnesabschnitt <lb n="p1b_550.036"/> zu vier Perioden. Jn den drei ersten derselben endigen die drei Vordersätze <lb n="p1b_550.037"/> je mit gemeinsamem Reim. Jn der vierten Periode reimt Vordersatz und Nachsatz <lb n="p1b_550.038"/> in einem Reimausgange. Es kann als Eigentümlichkeit unserer nationaldeutschen <lb n="p1b_550.039"/> Stanze betrachtet werden, daß der Nachsatz der drei ersten Perioden um eine <lb n="p1b_550.040"/> Silbe kürzer ist als deren Vordersatz, die deutsche Stanze somit drei männliche <lb n="p1b_550.041"/> Reime hat.</p> <p><lb n="p1b_550.042"/> Die Abwechslung von weiblichen und männlichen Reimen trägt nicht wenig <lb n="p1b_550.043"/> zum Wohllaut unserer deutschen Oktave bei. Am vollkommensten und wohltönendsten </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [550/0584]
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Gleichwie des Nachts ein Licht in einem Hafen p1b_550.002
Vom hohen Meer erblickt Schiff oder Nachen, p1b_550.003
Wenn Stürm' es ihm nicht rauben oder Klippen, p1b_550.004
So sah ich über dem geschwellten Segel p1b_550.005
Die Fahnen weh'n von jenem andern Leben, p1b_550.006
Und tief erseufzt' ich da nach meinem Ende.
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Nicht daß ich hätte schon erreicht das Ende; p1b_550.008
Denn gern wär' mit dem Tag ich in dem Hafen; p1b_550.009
Und lang ist solche Fahrt für's kurze Leben. p1b_550.010
Auch seh' ich bang mich in so morschem Nachen, p1b_550.011
Und voller, als ich wollte, schwillt das Segel p1b_550.012
Vom Wind, der mich verschlug in diese Klippen.
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Entrinne lebend ich den falschen Klippen, p1b_550.014
Und nimmt mein Elend noch ein schönes Ende, p1b_550.015
Wie eilig wollt' ich wenden dann das Segel p1b_550.016
Und ankernd ruh'n in irgend einem Hafen, p1b_550.017
Verglüh' ich nicht gleich angebranntem Nachen! p1b_550.018
So ungern laß ich das gewohnte Leben.
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Du, Herr, von meinem Ende, meinem Leben, p1b_550.020
Bevor mein Nachen scheitert unter Klippen, p1b_550.021
Führ' gutem Hafen zu mein müdes Segel.
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§ 169. Die Oktave oder Stanze. p1b_550.023
Stanze (estanza == Abschnitt) kann im weitesten Sinne eigentlich p1b_550.024
jede Strophe eines Gedichts genannt werden. Besonders aber p1b_550.025
führt diesen Namen die sogenannte Oktave (auch Ottave: ottave rime p1b_550.026
== acht Reime) der Jtaliener. Jm Gegensatz zu Platen, der ihre p1b_550.027
klappernde Monotonie tadeln zu müssen glaubte, ─ hat Hermann Lingg p1b_550.028
diese Strophe nicht mit Unrecht die Königin der Strophen genannt. p1b_550.029
Sie besteht in der Regel aus 8 fünftaktigen jambischen Vers-Zeilen, p1b_550.030
von denen die sechs ersten alternierend, die zwei letzten paarweise reimen.
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Durch den Gleichklang der letzten Zeilen entsteht eine schöne harmonische p1b_550.032
Reimabwechslung, ein wohlklingender charakteristischer Schluß. p1b_550.033
(Es giebt auch Oktavenkränze. Vgl. Schluß von § 165. S. 543.)
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Reimschema: a b a b a b c c.
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Die acht Zeilen der Strophe gliedern sich durch Reim und Sinnesabschnitt p1b_550.036
zu vier Perioden. Jn den drei ersten derselben endigen die drei Vordersätze p1b_550.037
je mit gemeinsamem Reim. Jn der vierten Periode reimt Vordersatz und Nachsatz p1b_550.038
in einem Reimausgange. Es kann als Eigentümlichkeit unserer nationaldeutschen p1b_550.039
Stanze betrachtet werden, daß der Nachsatz der drei ersten Perioden um eine p1b_550.040
Silbe kürzer ist als deren Vordersatz, die deutsche Stanze somit drei männliche p1b_550.041
Reime hat.
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zum Wohllaut unserer deutschen Oktave bei. Am vollkommensten und wohltönendsten
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