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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.

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Gebet ihr aus euren Schachten p1b_027.002
Edelsteine mir und Gold, p1b_027.003
Wenn ihr's roh mir geben wollt, p1b_027.004
Werd ich's nur als Stoff betrachten, p1b_027.005
Gebt's in Form, so werd ich's achten, p1b_027.006
Denn das muß ich gelten lassen, p1b_027.007
Was ich nicht kann besser fassen.

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Freilich finden wir durch diese Aussprüche nur bestätigt, daß die in der p1b_027.009
Vorstellung reflektierende Sinnenwelt der Stoff für den Dichter ist, welcher erst p1b_027.010
Gedicht wird, wenn er mit der Empfindung des Dichters, mit seinem Gemüt p1b_027.011
verschmolzen, vom Dichter die schöne Form erhalten hat. Mit anderen Worten: p1b_027.012
Wir wissen, welche Anforderungen man an den Dichter p1b_027.013
machen kann.
Wenn aber behauptet wurde, daß der wahre Dichter sich p1b_027.014
durch Genialität auszeichnet, daß er selbst Genie ist, daß nur deshalb seine p1b_027.015
Kraft Neues, Großes, ewig Gültiges und Vorbildliches zu schaffen vermöge, p1b_027.016
daß er nur deshalb der Kunst die Regeln zu geben wisse, so muß hier die im p1b_027.017
§ 2 schon gestellte Frage näher beleuchtet werden: Jst der Dichter eine p1b_027.018
besondere Species des Menschen oder nicht?
Für illustrierende p1b_027.019
Beantwortung dieser Frage will ich vorerst dem Dichter des "Nibelunge" p1b_027.020
Wilhelm Jordan folgende Geschichte nacherzählen.

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Eine Dame drückte ihr Erstaunen darüber aus, wie ein Maler eine p1b_027.022
solche Menge von Gestalten aus der Phantasie heraufbeschwören könne und er p1b_027.023
ferner die Erscheinungen seines Jnnern mit solcher Genauigkeit sehe, daß er p1b_027.024
sie mittelst einigen Farbestoffes mit dem Scheine handgreiflicher Wirklichkeit zu p1b_027.025
umkleiden vermöge.

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"Einiges Wunder", gab Jordan zur Antwort, "ist wirklich im Spiel. p1b_027.027
Einen Teil der Zauberei kann ich Jhnen begreiflich machen." Er führte sie p1b_027.028
zum norwegischen Maler Tidemann. Anfangs schaute die Dame nach einem p1b_027.029
herrlichen Gemälde, auf welchem den Mittelpunkt einer gestaltenreichen und p1b_027.030
dramatisch bewegten Gruppe ein Verwundeter bildete, der getragen wurde. Dann p1b_027.031
aber, als sie umherschaute, malte sich in ihren Zügen in rascher Folge Entsetzen, p1b_027.032
Ärger, Enttäuschung.

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Sie erblickte nämlich menschliche Gliedmaßen, Körperteile von Gips, Puppen p1b_027.034
und Gestelle, behangen mit allerlei Zierat und Gewändern, aufgeschlagene p1b_027.035
Kostümbücher, schauderhaft getreue anatomische Zeichnungen der Muskulatur p1b_027.036
und Knochenstellung von Armen und Beinen, Schultern und Hüften. Dann p1b_027.037
einen hölzernen Gliedermann an Schnüren von der Zimmerdecke herabhängend, p1b_027.038
genau in derselben Haltung wie der verwundete Mann auf dem Bilde und p1b_027.039
genau so gekleidet, wie jener; endlich das für sie Allerentsetzlichste: ein auf p1b_027.040
den Maler wartendes lebendiges Modell, ein Frauenzimmer,
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in gleicher Tracht wie die weibliche Hauptfigur des Gemäldes und p1b_027.042
dieser frappant ähnlich, nur mit hochtragischer Veredlung ihres etwas gewöhnlichen p1b_027.043
Gesichtsausdrucks. Da rief die Begleiterin: "O hätten Sie mir das p1b_027.044
nicht angethan; meine Jllusion, meinen Glauben an die schöpferische Macht des p1b_027.045
Genius haben Sie mir geraubt, unbarmherzig vernichtet. Die göttliche Kunst

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Edelsteine mir und Gold, p1b_027.003
Wenn ihr's roh mir geben wollt, p1b_027.004
Werd ich's nur als Stoff betrachten, p1b_027.005
Gebt's in Form, so werd ich's achten, p1b_027.006
Denn das muß ich gelten lassen, p1b_027.007
Was ich nicht kann besser fassen.

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Freilich finden wir durch diese Aussprüche nur bestätigt, daß die in der p1b_027.009
Vorstellung reflektierende Sinnenwelt der Stoff für den Dichter ist, welcher erst p1b_027.010
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verschmolzen, vom Dichter die schöne Form erhalten hat. Mit anderen Worten: p1b_027.012
Wir wissen, welche Anforderungen man an den Dichter p1b_027.013
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Wenn aber behauptet wurde, daß der wahre Dichter sich p1b_027.014
durch Genialität auszeichnet, daß er selbst Genie ist, daß nur deshalb seine p1b_027.015
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besondere Species des Menschen oder nicht?
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Beantwortung dieser Frage will ich vorerst dem Dichter des „Nibelunge“ p1b_027.020
Wilhelm Jordan folgende Geschichte nacherzählen.

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Eine Dame drückte ihr Erstaunen darüber aus, wie ein Maler eine p1b_027.022
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umkleiden vermöge.

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„Einiges Wunder“, gab Jordan zur Antwort, „ist wirklich im Spiel. p1b_027.027
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Ärger, Enttäuschung.

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Sie erblickte nämlich menschliche Gliedmaßen, Körperteile von Gips, Puppen p1b_027.034
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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/61>, abgerufen am 23.11.2024.