p1b_040.001 Ruhe, soll die Welt aus der Unruhe und Gottentfremdung zur Heimkehr in p1b_040.002 sich selbst und in Gott als ihrem Grunde und ihrem Ziele berufen werden.
p1b_040.003 2. Man bemerke, wie z. B. die französischen Neuromantiker - voran p1b_040.004 ihr Meister Victor Hugo - durch eine Rückkehr zur nackten, grellen p1b_040.005 Wirklichkeit das Gebiet der poetischen Stoffe erweiterten; wie nach ihrem Vorbilde p1b_040.006 vorzüglich der durch seine französische Abkunft dazu berechtigte Chamissop1b_040.007 auch die deutsche Poesie durch solche der Wirklichkeit des Lebens entnommene p1b_040.008 Stoffe bereicherte; wie Freiligrath das Verlangen nach neuen Stoffen - p1b_040.009 dem doch schon Rückert durch Einführung in den Osten und Erschließung p1b_040.010 einer Weltlyrik im großen Stil genügt hatte - in wahrhaft frappanter Weise p1b_040.011 befriedigte, indem er seine Stoffe sogar aus den Urwäldern und Savannen p1b_040.012 Amerikas, aus der glühenden Tropenwelt Afrikas, aus dem brennenden Wüstensande p1b_040.013 Arabiens und der wunderreichen Welt des Meeres holte.
p1b_040.014 Rückert erschloß die innere Seite des morgenländischen Lebens, Freiligrath p1b_040.015 in seiner weniger didaktischen als deskriptiven Epik führt uns das Morgenland p1b_040.016 auch in seiner Phantastik, Wildheit und äußeren Energie vor. Man kann p1b_040.017 nunmehr sagen: Der Stoff des Dichters, durch die Phantasie p1b_040.018 dem Menschenleben und allen Gebieten der Natur und der p1b_040.019 Künste entstammend, ist ein unbegrenzter.
p1b_040.020 Ein Gewitter, ein Sturm, ein Sonnenaufgang, ein Sonntagsmorgen, eine p1b_040.021 Blume &c. können Veranlassung zur Verschmelzung der dichterischen Empfindung p1b_040.022 mit dem Object geben.
p1b_040.023 3. Alles liegt beim Dichter an der Behandlungsweise der Stoffe.
p1b_040.024 Mit Recht sagt daher Schiller ("Über Matthissons Gedichte"): "Es ist p1b_040.025 niemals der Stoff, sondern die Behandlungsweise, was den Künstler und p1b_040.026 Dichter macht."
p1b_040.027 Wir geben hiezu einige Beispiele: Rückert haucht z. B. in seine sterbende p1b_040.028 Blume den Gedanken des vollständigen Hingebens der Blume an ihre Schöpferin, p1b_040.029 die Sonne. Er giebt der Natur Leben und spiegelt so in ihr sein Gemüt, das p1b_040.030 ja dem Stoffe nicht eigen ist. Die Sonne schaut bei ihm der Blume ins p1b_040.031 Antlitz, bis ihr Strahl ihr das Leben gestohlen, worauf der Dichter den Gedanken p1b_040.032 inniger Ergebung, die auch im Tode noch ein Lächeln für den geliebten Gegenstand p1b_040.033 hat, Ausdruck verleiht.
p1b_040.034
Eine Zierde deiner Welt,p1b_040.035 Wenn auch eine kleine nur,p1b_040.036 Ließest du mich blüh'n im Feld,p1b_040.037 Wie die Stern' auf höh'rer Flur.p1b_040.038 Einen Odem hauch' ich noch,p1b_040.039 Und er soll kein Seufzer sein;p1b_040.040 Einen Blick zum Himmel hochp1b_040.041 Und zur schönen Welt hinein.
p1b_040.042 (Vgl. auch "Das Veilchen" von Goethe.)
p1b_040.043 Wie es eine gemeine Behandlung erhabener Gegenstände giebt, so kann p1b_040.044 umgekehrt dem niedrigsten Stoffe noch Hoheit und Würde verliehen werden.
p1b_040.001 Ruhe, soll die Welt aus der Unruhe und Gottentfremdung zur Heimkehr in p1b_040.002 sich selbst und in Gott als ihrem Grunde und ihrem Ziele berufen werden.
p1b_040.003 2. Man bemerke, wie z. B. die französischen Neuromantiker ─ voran p1b_040.004 ihr Meister Victor Hugo ─ durch eine Rückkehr zur nackten, grellen p1b_040.005 Wirklichkeit das Gebiet der poetischen Stoffe erweiterten; wie nach ihrem Vorbilde p1b_040.006 vorzüglich der durch seine französische Abkunft dazu berechtigte Chamissop1b_040.007 auch die deutsche Poesie durch solche der Wirklichkeit des Lebens entnommene p1b_040.008 Stoffe bereicherte; wie Freiligrath das Verlangen nach neuen Stoffen ─ p1b_040.009 dem doch schon Rückert durch Einführung in den Osten und Erschließung p1b_040.010 einer Weltlyrik im großen Stil genügt hatte ─ in wahrhaft frappanter Weise p1b_040.011 befriedigte, indem er seine Stoffe sogar aus den Urwäldern und Savannen p1b_040.012 Amerikas, aus der glühenden Tropenwelt Afrikas, aus dem brennenden Wüstensande p1b_040.013 Arabiens und der wunderreichen Welt des Meeres holte.
p1b_040.014 Rückert erschloß die innere Seite des morgenländischen Lebens, Freiligrath p1b_040.015 in seiner weniger didaktischen als deskriptiven Epik führt uns das Morgenland p1b_040.016 auch in seiner Phantastik, Wildheit und äußeren Energie vor. Man kann p1b_040.017 nunmehr sagen: Der Stoff des Dichters, durch die Phantasie p1b_040.018 dem Menschenleben und allen Gebieten der Natur und der p1b_040.019 Künste entstammend, ist ein unbegrenzter.
p1b_040.020 Ein Gewitter, ein Sturm, ein Sonnenaufgang, ein Sonntagsmorgen, eine p1b_040.021 Blume &c. können Veranlassung zur Verschmelzung der dichterischen Empfindung p1b_040.022 mit dem Object geben.
p1b_040.023 3. Alles liegt beim Dichter an der Behandlungsweise der Stoffe.
p1b_040.024 Mit Recht sagt daher Schiller („Über Matthissons Gedichte“): „Es ist p1b_040.025 niemals der Stoff, sondern die Behandlungsweise, was den Künstler und p1b_040.026 Dichter macht.“
p1b_040.027 Wir geben hiezu einige Beispiele: Rückert haucht z. B. in seine sterbende p1b_040.028 Blume den Gedanken des vollständigen Hingebens der Blume an ihre Schöpferin, p1b_040.029 die Sonne. Er giebt der Natur Leben und spiegelt so in ihr sein Gemüt, das p1b_040.030 ja dem Stoffe nicht eigen ist. Die Sonne schaut bei ihm der Blume ins p1b_040.031 Antlitz, bis ihr Strahl ihr das Leben gestohlen, worauf der Dichter den Gedanken p1b_040.032 inniger Ergebung, die auch im Tode noch ein Lächeln für den geliebten Gegenstand p1b_040.033 hat, Ausdruck verleiht.
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Eine Zierde deiner Welt,p1b_040.035 Wenn auch eine kleine nur,p1b_040.036 Ließest du mich blüh'n im Feld,p1b_040.037 Wie die Stern' auf höh'rer Flur.p1b_040.038 Einen Odem hauch' ich noch,p1b_040.039 Und er soll kein Seufzer sein;p1b_040.040 Einen Blick zum Himmel hochp1b_040.041 Und zur schönen Welt hinein.
p1b_040.042 (Vgl. auch „Das Veilchen“ von Goethe.)
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Ruhe, soll die Welt aus der Unruhe und Gottentfremdung zur Heimkehr in p1b_040.002
sich selbst und in Gott als ihrem Grunde und ihrem Ziele berufen werden.
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ihr Meister Victor Hugo ─ durch eine Rückkehr zur nackten, grellen p1b_040.005
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vorzüglich der durch seine französische Abkunft dazu berechtigte Chamisso p1b_040.007
auch die deutsche Poesie durch solche der Wirklichkeit des Lebens entnommene p1b_040.008
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dem doch schon Rückert durch Einführung in den Osten und Erschließung p1b_040.010
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3. Alles liegt beim Dichter an der Behandlungsweise der Stoffe.
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Antlitz, bis ihr Strahl ihr das Leben gestohlen, worauf der Dichter den Gedanken p1b_040.032
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Eine Zierde deiner Welt, p1b_040.035
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(Vgl. auch „Das Veilchen“ von Goethe.)
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/74>, abgerufen am 23.11.2024.
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