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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882.

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Vom Standpunkt der Kunst aus ist daher auch die Lehre irrig, die von modernen p1b_041.002
und unmodernen Stoffen spricht. Um z. B. an das Gebiet p1b_041.003
des Drama zu denken, so wäre es thöricht, zu fordern, daß der Dramendichter, welcher p1b_041.004
ein Stück Geschichte nimmt, uns in irgend einem realen Sinn und Körper p1b_041.005
die Substanz derselben wiedergeben sollte. Zweck und Aufgabe jeder künstlerischen p1b_041.006
Schöpfung, die sich eines historischen Vorwurfs bemächtigt, kann p1b_041.007
doch nur sein, denselben in seiner geistigen Eigenart zu erfassen und zur p1b_041.008
Erscheinung zu bringen; es giebt keine anderen als die geistigen Mittel des p1b_041.009
Rapports zwischen uns und ihm; was jenseits liegt, gehört der Kulissenmalerei, p1b_041.010
dem Kostümschneider, dem Regisseur an. Wie kann man von modernen p1b_041.011
und unmodernen Stoffen reden?
Die Wahrheit ist, daß es gewisse p1b_041.012
Themata giebt, welche heute modern sind, weil sie mit gewissen Tendenzen der p1b_041.013
Zeit zusammenfallen, und morgen aufgehört haben, es zu sein, sobald neue p1b_041.014
Tendenzen an Stelle der alten getreten sind; daß es aber andere Themata p1b_041.015
giebt, welche niemals veralten, weil sie nicht die Frage eines Geschlechts, sondern p1b_041.016
die der Menschheit behandeln. Jedes echte Kunstwerk wird sich um p1b_041.017
eine solche Jdee von unvergänglicher Geltung krystallisieren, mag der Dichter p1b_041.018
sie aus dem 19. oder 11. Jahrhundert genommen haben. Sie wird von p1b_041.019
seinem Atem belebt, von seiner Wärme durchzogen, auch in seiner Sprache p1b_041.020
zu uns reden. - Dies gelte von allen dichterischen Stoffen!

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§ 17. Entstehung des Gedichts. (Poetische Disposition p1b_041.022
und Komposition.)

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Hat die dichterische Phantasie einen Stoff ausgewählt, so bildet p1b_041.024
sie daraus das Kunstwerk. Den Stoff nennt man, sofern derselbe die p1b_041.025
Anregung zum Gedichte giebt, das dichterische Motiv.

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Der erste Akt der Geistesthätigkeit, den das dichterische Motiv verursacht, p1b_041.027
ist die dichterische Konception, d. i. die Vereinigung dieses Motivs mit seinem p1b_041.028
subjektiven Erfassen: also der Akt durch den es Eigentum des Dichters p1b_041.029
wird.
Jetzt ist der Dichter - dessen Geistesflug ihn von der Verwertung p1b_041.030
des Stoffes zur Jdee emporhebt - im Stande, eine Skizze zu entwerfen, durch p1b_041.031
die er zunächst seinen Stoff in nüchterne Prüfung nimmt. Dies ist die p1b_041.032
poetische Disposition.

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Das Arbeiten beginnt, der Dichter erkennt in der Skizze Schwierigkeiten, p1b_041.034
welche (weniger im kleinen lyrischen Gedicht, bei welchem ja Konception und p1b_041.035
Ausführung eins sind, als vielmehr bei größeren Kunstwerken) die Ausführung p1b_041.036
hemmen oder verzögern.

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Die Ausführung ist die eigentliche Komposition. Jhr fällt die künstlerische p1b_041.038
Gestaltung des Stoffes, die Ausscheidung, Sichtung, Gruppierung zu. Beim p1b_041.039
Drama ist es die Einteilung der Handlung in Akte und Scenen, die Ausscheidung p1b_041.040
der Nebenhandlung, des Kontrastes, die psychologische Motivierung,

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Vom Standpunkt der Kunst aus ist daher auch die Lehre irrig, die von modernen p1b_041.002
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zu uns reden. ─ Dies gelte von allen dichterischen Stoffen!

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§ 17. Entstehung des Gedichts. (Poetische Disposition p1b_041.022
und Komposition.)

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Hat die dichterische Phantasie einen Stoff ausgewählt, so bildet p1b_041.024
sie daraus das Kunstwerk. Den Stoff nennt man, sofern derselbe die p1b_041.025
Anregung zum Gedichte giebt, das dichterische Motiv.

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Der erste Akt der Geistesthätigkeit, den das dichterische Motiv verursacht, p1b_041.027
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wird.
Jetzt ist der Dichter ─ dessen Geistesflug ihn von der Verwertung p1b_041.030
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Das Arbeiten beginnt, der Dichter erkennt in der Skizze Schwierigkeiten, p1b_041.034
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Ausführung eins sind, als vielmehr bei größeren Kunstwerken) die Ausführung p1b_041.036
hemmen oder verzögern.

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[41/0075] p1b_041.001 Vom Standpunkt der Kunst aus ist daher auch die Lehre irrig, die von modernen p1b_041.002 und unmodernen Stoffen spricht. Um z. B. an das Gebiet p1b_041.003 des Drama zu denken, so wäre es thöricht, zu fordern, daß der Dramendichter, welcher p1b_041.004 ein Stück Geschichte nimmt, uns in irgend einem realen Sinn und Körper p1b_041.005 die Substanz derselben wiedergeben sollte. Zweck und Aufgabe jeder künstlerischen p1b_041.006 Schöpfung, die sich eines historischen Vorwurfs bemächtigt, kann p1b_041.007 doch nur sein, denselben in seiner geistigen Eigenart zu erfassen und zur p1b_041.008 Erscheinung zu bringen; es giebt keine anderen als die geistigen Mittel des p1b_041.009 Rapports zwischen uns und ihm; was jenseits liegt, gehört der Kulissenmalerei, p1b_041.010 dem Kostümschneider, dem Regisseur an. Wie kann man von modernen p1b_041.011 und unmodernen Stoffen reden? Die Wahrheit ist, daß es gewisse p1b_041.012 Themata giebt, welche heute modern sind, weil sie mit gewissen Tendenzen der p1b_041.013 Zeit zusammenfallen, und morgen aufgehört haben, es zu sein, sobald neue p1b_041.014 Tendenzen an Stelle der alten getreten sind; daß es aber andere Themata p1b_041.015 giebt, welche niemals veralten, weil sie nicht die Frage eines Geschlechts, sondern p1b_041.016 die der Menschheit behandeln. Jedes echte Kunstwerk wird sich um p1b_041.017 eine solche Jdee von unvergänglicher Geltung krystallisieren, mag der Dichter p1b_041.018 sie aus dem 19. oder 11. Jahrhundert genommen haben. Sie wird von p1b_041.019 seinem Atem belebt, von seiner Wärme durchzogen, auch in seiner Sprache p1b_041.020 zu uns reden. ─ Dies gelte von allen dichterischen Stoffen! p1b_041.021 § 17. Entstehung des Gedichts. (Poetische Disposition p1b_041.022 und Komposition.) p1b_041.023 Hat die dichterische Phantasie einen Stoff ausgewählt, so bildet p1b_041.024 sie daraus das Kunstwerk. Den Stoff nennt man, sofern derselbe die p1b_041.025 Anregung zum Gedichte giebt, das dichterische Motiv. p1b_041.026 Der erste Akt der Geistesthätigkeit, den das dichterische Motiv verursacht, p1b_041.027 ist die dichterische Konception, d. i. die Vereinigung dieses Motivs mit seinem p1b_041.028 subjektiven Erfassen: also der Akt durch den es Eigentum des Dichters p1b_041.029 wird. Jetzt ist der Dichter ─ dessen Geistesflug ihn von der Verwertung p1b_041.030 des Stoffes zur Jdee emporhebt ─ im Stande, eine Skizze zu entwerfen, durch p1b_041.031 die er zunächst seinen Stoff in nüchterne Prüfung nimmt. Dies ist die p1b_041.032 poetische Disposition. p1b_041.033 Das Arbeiten beginnt, der Dichter erkennt in der Skizze Schwierigkeiten, p1b_041.034 welche (weniger im kleinen lyrischen Gedicht, bei welchem ja Konception und p1b_041.035 Ausführung eins sind, als vielmehr bei größeren Kunstwerken) die Ausführung p1b_041.036 hemmen oder verzögern. p1b_041.037 Die Ausführung ist die eigentliche Komposition. Jhr fällt die künstlerische p1b_041.038 Gestaltung des Stoffes, die Ausscheidung, Sichtung, Gruppierung zu. Beim p1b_041.039 Drama ist es die Einteilung der Handlung in Akte und Scenen, die Ausscheidung p1b_041.040 der Nebenhandlung, des Kontrastes, die psychologische Motivierung,

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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik01_1882/75>, abgerufen am 23.11.2024.