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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883.

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einer gelehrten Bildung und eines geläuterten Geschmacks, daß sie bei bloßer p2b_111.002
Nennung des Wortes "Lyrik" mitleidig mit den Achseln zucken. Das darf nicht p2b_111.003
befremden. Zunächst liegt das in dem herrschenden Zeitgeist, auf dessen Fahne p2b_111.004
der nüchternste Materialismus steht, andererseits aber auch in dem erwähnten p2b_111.005
Mißbrauch, den die Lyrik durch fade Reimschmiede seit Jahrzehnten erfahren hat p2b_111.006
und leider noch täglich erfährt. Man stelle also nicht die Behauptung auf: p2b_111.007
Liebeslieder mag Niemand mehr! - So lange es noch liebende Herzen und p2b_111.008
empfindungsfähige Gemüter auf Erden giebt, so lange es dem Schachergeiste p2b_111.009
unseres Zeitalters noch nicht gelingt, Eros völlig in den Dienst der Börse zu p2b_111.010
zwingen, so lange wird ein wahrhaft poetisches, ein wahrhaft empfundenes und p2b_111.011
künstlerisch ausgestattetes Liebeslied noch immer einen Wiederhall finden, wenn p2b_111.012
auch nicht unter der feilschenden Menge des Marktes.

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Diese Apotheose erinnert uns an jenen Vers Bernarts von Ventadour, p2b_111.014
welchen Schwenk einer Kritik vorsetzte:

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Gar wenig taugt mir ein Gesang, p2b_111.016
Wo nicht der Klang vom Herzen dringt. p2b_111.017
Und nicht vom Herzen dringt der Klang, p2b_111.018
Wenn das nicht reine Liebe hegt. -

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sowie an das Wort Hölderlins, dessen Kraft und Tiefe, dessen Geist und Adel, p2b_111.020
dessen Zartheit und Milde ihm die Anerkennung und den Ruhm eines unserer p2b_111.021
größten Lyriker sichern:

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Du Land des hohen, ernsteren Genius! p2b_111.023
Du Land der Liebe! bin ich der Deine schon, p2b_111.024
Oft zürnt' ich weinend, daß du immer p2b_111.025
Blöde die eigene Seele läugnest.

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Wie herrliche Blüten die erotische Lyrik auch noch in unserer Zeit zu p2b_111.027
treiben vermag, beweisen unter vielen Liebesliedern hervorragender Dichter der p2b_111.028
Gegenwart z. B. die Erotika des gottbegnadeten Sängers Alexander Kaufmann, p2b_111.029
die er in "Unter den Reben" (Berlin. Lipperheide. S. 46-96) seiner p2b_111.030
Amara George gesungen hat. Diese tiefempfundenen, formenschönen Gedichte p2b_111.031
erscheinen wie eine Fortsetzung des Liebesfrühlings von Fr. Rückert, an den so p2b_111.032
mancher süße Ton erinnert, ja, den man zu hören glaubt in den ergreifenden p2b_111.033
Ghaselen: "Es führt das Schicksal Dich in weite Ferne, o bleib getreu!", sowie p2b_111.034
in "Jch liebe Dich nach Gottes ew'gem Schlusse - verlaß mich nicht!"

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Beispiele des Liebesliedes: p2b_111.036

Du meine Seele, du mein Herz, p2b_111.037
Du meine Wonn', o du mein Schmerz, p2b_111.038
Du meine Welt, in der ich lebe, p2b_111.039
Mein Himmel du, darein ich schwebe, p2b_111.040
O du mein Grab, in das hinab p2b_111.041
Jch ewig meinen Kummer gab! p2b_111.042
Du bist die Ruh, du bist der Frieden, p2b_111.043
Du bist der Himmel mir beschieden. p2b_111.044
Daß du mich liebst, macht mich mir wert, p2b_111.045
Dein Blick hat mich vor mir verklärt, p2b_111.046
Du hebst mich liebend über mich, p2b_111.047
Mein guter Geist, mein beßres Jch!
(Rückert)

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einer gelehrten Bildung und eines geläuterten Geschmacks, daß sie bei bloßer p2b_111.002
Nennung des Wortes „Lyrik“ mitleidig mit den Achseln zucken. Das darf nicht p2b_111.003
befremden. Zunächst liegt das in dem herrschenden Zeitgeist, auf dessen Fahne p2b_111.004
der nüchternste Materialismus steht, andererseits aber auch in dem erwähnten p2b_111.005
Mißbrauch, den die Lyrik durch fade Reimschmiede seit Jahrzehnten erfahren hat p2b_111.006
und leider noch täglich erfährt. Man stelle also nicht die Behauptung auf: p2b_111.007
Liebeslieder mag Niemand mehr! ─ So lange es noch liebende Herzen und p2b_111.008
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unseres Zeitalters noch nicht gelingt, Eros völlig in den Dienst der Börse zu p2b_111.010
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Diese Apotheose erinnert uns an jenen Vers Bernarts von Ventadour, p2b_111.014
welchen Schwenk einer Kritik vorsetzte:

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Gar wenig taugt mir ein Gesang, p2b_111.016
Wo nicht der Klang vom Herzen dringt. p2b_111.017
Und nicht vom Herzen dringt der Klang, p2b_111.018
Wenn das nicht reine Liebe hegt. ─

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sowie an das Wort Hölderlins, dessen Kraft und Tiefe, dessen Geist und Adel, p2b_111.020
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Blöde die eigene Seele läugnest.

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Gegenwart z. B. die Erotika des gottbegnadeten Sängers Alexander Kaufmann, p2b_111.029
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Beispiele des Liebesliedes: p2b_111.036

Du meine Seele, du mein Herz, p2b_111.037
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Mein guter Geist, mein beßres Jch!
(Rückert)

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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/133>, abgerufen am 24.11.2024.