p2b_257.001 d. Auch vom Mythus unterscheidet sich das Märchen. Es hat p2b_257.002 nichts mit den Göttern zu thun, es liebt vielmehr kleinere Figuren: Feen, p2b_257.003 Nixen, Zwerge, Hexen, die übrigens dem Willen der Gottheit unterworfen sind.
p2b_257.004 Wackernagel (akad. Vorlesungen S. 55) hat das Verhältnis zwischen p2b_257.005 Mythus und Märchen nachgewiesen und gezeigt, wie im Märchen die Überreste p2b_257.006 des erloschenen Götterglaubens und der alten Göttersage fortbestehen. p2b_257.007 Das 14. Märchen der Brüder Grimm von den drei Spinnerinnen zeigt z. B., p2b_257.008 wie die altgermanischen Parzen (die Nornen der skandinavischen Poesie, d. i. p2b_257.009 die das Schicksal der Menschen spinnenden Schicksalsgöttinnen) verwertet sind. p2b_257.010 - Das Märchen vom Dornröschen, das Uhland im Märchen von der deutschen p2b_257.011 Poesie nachgebildet hat, ist ein Nachklang der Erzählung in der Edda, p2b_257.012 daß Odin die Schlachtengöttin Brunhild mit einem schlafanzaubernden Dorn p2b_257.013 gestochen und die Entschlafene mit einem nur dem Sigurd (Siegfried) durchdringlichenp2b_257.014 Flammenwall umgeben habe, welche Sage bekanntlich R. Wagner p2b_257.015 in seinem Siegfried benutzt hat. "Die 2 Brüder" (Nr. 60 bei Grimm) lehnen p2b_257.016 sich an die alten Mythen von Siegfried in ihren Erzählungen vom bösen p2b_257.017 Schmied, vom Golddrachen, vom Drachenberg, Drachenkampf und Befreiung p2b_257.018 einer Jungfrau u. s. w.
p2b_257.019 Wegen ihres Ursprungs aus dem Mythus blieben die Märchen ein mit p2b_257.020 dem Volke eng verwachsenes Gemeingut jeder Nation.
p2b_257.021 5. Durch die Kreuzzüge wurden Märchen auch in die nordischen Länder p2b_257.022 eingebürgert, allwo durch Verschmelzung von Elfen und ähnlichen Wesen (Dryaden, p2b_257.023 Najaden, Oreaden) das Feenmärchen entstand, von dem Herder sagt: "Keine p2b_257.024 Dichtung vermag dem menschlichen Herzen so artige Dinge zu sagen, als ein p2b_257.025 Feenmärchen. Jn ihm ist die ganze Welt und ihre innere Werkstätte, das Menschenherz, p2b_257.026 als eine Zauberwelt ganz unser."
p2b_257.027 Knüpft das Märchen sich an bestimmte Gegenden und Orte, so heißt es p2b_257.028 Volksmärchen. Enthält es eine moralische Lehre im leichten, faßlichen, p2b_257.029 romantischen Gewande, so heißt es Kinder- oder Ammenmärchen. Sonst p2b_257.030 kennt man noch das Hausmärchen, das merkwürdiger Weise den Griechen p2b_257.031 trotz vieler märchenhafter Züge ihrer Mythologie ganz fehlte. ("Die Kindlichkeit," p2b_257.032 sagt Welcker in seiner griechischen Götterlehre I. 110, "welche das Wesen p2b_257.033 des deutschen, slavischen, persischen Märchens ausmacht, war dem hellenischen p2b_257.034 Geist fremd.")
p2b_257.035 6. Die größte Bedeutung unter allen Formen des Märchens beansprucht p2b_257.036 mit Recht das Kindermärchen, da es ein Bildungsmittel geworden ist. Die p2b_257.037 Volksmärchen haben auf das reine Gemüt und die ungetrübte Phantasie der p2b_257.038 jugendlichen Seele manchmal einen ebenso nachteiligen Einfluß, als leichtfertige p2b_257.039 Romane auf die erwachsene Jugend, da sie nicht selten das Sinnliche oft auf p2b_257.040 unsittliche Weise mit einem duftenden, aber verschleierten Zauber verdecken. p2b_257.041 Man hat daher bei der Wahl der Märchen vorsichtig zu sein, und für Kinder p2b_257.042 nur solche zu nehmen, welche mit reinem Herzen und poetischem Sinn gebildet p2b_257.043 sind und in denen harmloser Humor mit herzerwärmender Jnnigkeit, Gemütlichkeit p2b_257.044 mit sittlichem Wesen sich vereint.
p2b_257.001 d. Auch vom Mythus unterscheidet sich das Märchen. Es hat p2b_257.002 nichts mit den Göttern zu thun, es liebt vielmehr kleinere Figuren: Feen, p2b_257.003 Nixen, Zwerge, Hexen, die übrigens dem Willen der Gottheit unterworfen sind.
p2b_257.004 Wackernagel (akad. Vorlesungen S. 55) hat das Verhältnis zwischen p2b_257.005 Mythus und Märchen nachgewiesen und gezeigt, wie im Märchen die Überreste p2b_257.006 des erloschenen Götterglaubens und der alten Göttersage fortbestehen. p2b_257.007 Das 14. Märchen der Brüder Grimm von den drei Spinnerinnen zeigt z. B., p2b_257.008 wie die altgermanischen Parzen (die Nornen der skandinavischen Poesie, d. i. p2b_257.009 die das Schicksal der Menschen spinnenden Schicksalsgöttinnen) verwertet sind. p2b_257.010 ─ Das Märchen vom Dornröschen, das Uhland im Märchen von der deutschen p2b_257.011 Poesie nachgebildet hat, ist ein Nachklang der Erzählung in der Edda, p2b_257.012 daß Odin die Schlachtengöttin Brunhild mit einem schlafanzaubernden Dorn p2b_257.013 gestochen und die Entschlafene mit einem nur dem Sigurd (Siegfried) durchdringlichenp2b_257.014 Flammenwall umgeben habe, welche Sage bekanntlich R. Wagner p2b_257.015 in seinem Siegfried benutzt hat. „Die 2 Brüder“ (Nr. 60 bei Grimm) lehnen p2b_257.016 sich an die alten Mythen von Siegfried in ihren Erzählungen vom bösen p2b_257.017 Schmied, vom Golddrachen, vom Drachenberg, Drachenkampf und Befreiung p2b_257.018 einer Jungfrau u. s. w.
p2b_257.019 Wegen ihres Ursprungs aus dem Mythus blieben die Märchen ein mit p2b_257.020 dem Volke eng verwachsenes Gemeingut jeder Nation.
p2b_257.021 5. Durch die Kreuzzüge wurden Märchen auch in die nordischen Länder p2b_257.022 eingebürgert, allwo durch Verschmelzung von Elfen und ähnlichen Wesen (Dryaden, p2b_257.023 Najaden, Oreaden) das Feenmärchen entstand, von dem Herder sagt: „Keine p2b_257.024 Dichtung vermag dem menschlichen Herzen so artige Dinge zu sagen, als ein p2b_257.025 Feenmärchen. Jn ihm ist die ganze Welt und ihre innere Werkstätte, das Menschenherz, p2b_257.026 als eine Zauberwelt ganz unser.“
p2b_257.027 Knüpft das Märchen sich an bestimmte Gegenden und Orte, so heißt es p2b_257.028 Volksmärchen. Enthält es eine moralische Lehre im leichten, faßlichen, p2b_257.029 romantischen Gewande, so heißt es Kinder- oder Ammenmärchen. Sonst p2b_257.030 kennt man noch das Hausmärchen, das merkwürdiger Weise den Griechen p2b_257.031 trotz vieler märchenhafter Züge ihrer Mythologie ganz fehlte. („Die Kindlichkeit,“ p2b_257.032 sagt Welcker in seiner griechischen Götterlehre I. 110, „welche das Wesen p2b_257.033 des deutschen, slavischen, persischen Märchens ausmacht, war dem hellenischen p2b_257.034 Geist fremd.“)
p2b_257.035 6. Die größte Bedeutung unter allen Formen des Märchens beansprucht p2b_257.036 mit Recht das Kindermärchen, da es ein Bildungsmittel geworden ist. Die p2b_257.037 Volksmärchen haben auf das reine Gemüt und die ungetrübte Phantasie der p2b_257.038 jugendlichen Seele manchmal einen ebenso nachteiligen Einfluß, als leichtfertige p2b_257.039 Romane auf die erwachsene Jugend, da sie nicht selten das Sinnliche oft auf p2b_257.040 unsittliche Weise mit einem duftenden, aber verschleierten Zauber verdecken. p2b_257.041 Man hat daher bei der Wahl der Märchen vorsichtig zu sein, und für Kinder p2b_257.042 nur solche zu nehmen, welche mit reinem Herzen und poetischem Sinn gebildet p2b_257.043 sind und in denen harmloser Humor mit herzerwärmender Jnnigkeit, Gemütlichkeit p2b_257.044 mit sittlichem Wesen sich vereint.
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6. Die größte Bedeutung unter allen Formen des Märchens beansprucht p2b_257.036
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/279>, abgerufen am 22.11.2024.
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