Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883.p2b_013.001 p2b_013.012 "Das ist des Lyrikers Kunst, aussprechen was allen gemein ist, p2b_013.016 p2b_013.019Wie er's im tiefsten Gemüt neu und besonders erschuf; p2b_013.017 Oder dem Eigensten auch solch allverständlich Gepräge p2b_013.018 Leih'n, daß jeglicher drin staunend sich selber erkennt." (Geibel, Distichen XVI.) § 9. Anforderungen an den Lyriker. p2b_013.021 p2b_013.025 p2b_013.026 p2b_013.027 "Wenn Jhr fragt, wer hier nun spricht, p2b_013.036 (Rückert.)Jch, der Dichter, oder sie? p2b_013.037 Sag' ich Euch: ich weiß es nicht, p2b_013.038 Sondert Jhr's, ich sondr' es nie." p2b_013.039 p2b_013.001 p2b_013.012 „Das ist des Lyrikers Kunst, aussprechen was allen gemein ist, p2b_013.016 p2b_013.019Wie er's im tiefsten Gemüt neu und besonders erschuf; p2b_013.017 Oder dem Eigensten auch solch allverständlich Gepräge p2b_013.018 Leih'n, daß jeglicher drin staunend sich selber erkennt.“ (Geibel, Distichen XVI.) § 9. Anforderungen an den Lyriker. p2b_013.021 p2b_013.025 p2b_013.026 p2b_013.027 „Wenn Jhr fragt, wer hier nun spricht, p2b_013.036 (Rückert.)Jch, der Dichter, oder sie? p2b_013.037 Sag' ich Euch: ich weiß es nicht, p2b_013.038 Sondert Jhr's, ich sondr' es nie.“ p2b_013.039 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0035" n="13"/> <p><lb n="p2b_013.001"/> 2. Dem wahren Lyriker öffnet irgend ein Stoff den strömenden Dichterquell, <lb n="p2b_013.002"/> der unechte wirft sich auf einen bestimmten Stoff und müht sich, aus <lb n="p2b_013.003"/> dem Stoffe herauszupressen, was ihm selber fehlt. Der wahre Lyriker hascht <lb n="p2b_013.004"/> daher nicht nach Stoffen wie der Nachahmer; er vermählt den beliebigen, ihn <lb n="p2b_013.005"/> anregenden Gegenstand sofort mit seiner subjektiven Seelenstimmung. Die <lb n="p2b_013.006"/> Auen, die Blumen, die Wälder, die Tiere, alles fühlt mit ihm, alles ist <lb n="p2b_013.007"/> Echo seiner Gefühle, die bei größeren Reihen von Gedichten sich als Elemente <lb n="p2b_013.008"/> seiner Lyrik herausschälen lassen. Je nach der eigenartigen Bildung walten <lb n="p2b_013.009"/> als solche Elemente vor z. B. das Vaterlandsgefühl, oder das Heimatsgefühl, <lb n="p2b_013.010"/> oder das Gefühl für das Jdyllische, oder das Gefühl für die Natur, oder <lb n="p2b_013.011"/> das religiöse Gefühl, oder das Gefühl für die Liebe.</p> <p><lb n="p2b_013.012"/> 3. Die Eigenart des Dichters zeigt sich in der besonderen, dichterischen <lb n="p2b_013.013"/> Behandlung seines Stoffes, was Geibel, zwar etwas nachlässig in Form und <lb n="p2b_013.014"/> Sprache, doch erschöpfend und wahr so ausdrückt:</p> <lb n="p2b_013.015"/> <p> <lg> <l>„Das ist des Lyrikers Kunst, aussprechen was allen gemein ist,</l> <lb n="p2b_013.016"/> <l>Wie er's im tiefsten Gemüt neu und besonders erschuf;</l> <lb n="p2b_013.017"/> <l>Oder dem Eigensten auch solch allverständlich Gepräge</l> <lb n="p2b_013.018"/> <l>Leih'n, daß jeglicher drin staunend sich selber erkennt.“</l> </lg> <lb n="p2b_013.019"/> <hi rendition="#right">(Geibel, Distichen <hi rendition="#aq">XVI</hi>.)</hi> </p> </div> <lb n="p2b_013.020"/> <div> <head> <hi rendition="#c">§ 9. Anforderungen an den Lyriker.</hi> </head> <p><lb n="p2b_013.021"/> 1. Vom Lyriker verlangen wir Wahrheit der Empfindung, Empfänglichkeit <lb n="p2b_013.022"/> für alles Schöne, Zartheit des Gemüts, welches leicht in <lb n="p2b_013.023"/> Schwingungen versetzt wird und das Jdeale rein darzustellen vermag, <lb n="p2b_013.024"/> Harmonie des Seelenlebens.</p> <p><lb n="p2b_013.025"/> 2. Der Dichter muß erhöht empfinden.</p> <p><lb n="p2b_013.026"/> 3. Er muß der Gegenstand seiner Lyrik sein.</p> <p><lb n="p2b_013.027"/> 1. „Ein volles, ganz von einer Empfindung volles Herz ist es, was den <lb n="p2b_013.028"/> Lyriker macht“, sagt Goethe. Wir sehen dem Lyriker nichts nach, weil seine <lb n="p2b_013.029"/> Gefühle auch die unsrigen sind. Wir dichten mit ihm und hassen jede Aufdringlichkeit <lb n="p2b_013.030"/> von Gefühlen, weil wir alle Mittelempfindungen genau kennen, <lb n="p2b_013.031"/> oder sogar mitempfinden. Wir sind erzürnt über Anmaßung, wie über allzu <lb n="p2b_013.032"/> naive Kindlichkeit und rügen es, wenn der Lyriker aus seiner eigenen Gefühlssphäre <lb n="p2b_013.033"/> heraustritt. Der Lyriker soll sich selbst seine ganze Welt sein, ohne <lb n="p2b_013.034"/> darnach zu fragen, wer ihn höre.</p> <lb n="p2b_013.035"/> <p> <lg> <l>„Wenn Jhr fragt, wer hier nun spricht,</l> <lb n="p2b_013.036"/> <l>Jch, der Dichter, oder sie?</l> <lb n="p2b_013.037"/> <l>Sag' ich Euch: ich weiß es nicht,</l> <lb n="p2b_013.038"/> <l>Sondert Jhr's, ich sondr' es nie.“</l> </lg> <hi rendition="#right">(Rückert.)</hi> </p> <p><lb n="p2b_013.039"/> Das ist der wahre Lyriker, der, unbekümmert um die Außenwelt, seinen <lb n="p2b_013.040"/> Gefühlen Ausdruck verleiht, der nicht auf das Gefühl der Anwesenden spekuliert, <lb n="p2b_013.041"/> der nicht aus seinen Empfindungen Kapital schlagen will, der singet „wie der <lb n="p2b_013.042"/> Vogel singt“. (Vgl. § 1. 2 d. Bds.)</p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [13/0035]
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2. Dem wahren Lyriker öffnet irgend ein Stoff den strömenden Dichterquell, p2b_013.002
der unechte wirft sich auf einen bestimmten Stoff und müht sich, aus p2b_013.003
dem Stoffe herauszupressen, was ihm selber fehlt. Der wahre Lyriker hascht p2b_013.004
daher nicht nach Stoffen wie der Nachahmer; er vermählt den beliebigen, ihn p2b_013.005
anregenden Gegenstand sofort mit seiner subjektiven Seelenstimmung. Die p2b_013.006
Auen, die Blumen, die Wälder, die Tiere, alles fühlt mit ihm, alles ist p2b_013.007
Echo seiner Gefühle, die bei größeren Reihen von Gedichten sich als Elemente p2b_013.008
seiner Lyrik herausschälen lassen. Je nach der eigenartigen Bildung walten p2b_013.009
als solche Elemente vor z. B. das Vaterlandsgefühl, oder das Heimatsgefühl, p2b_013.010
oder das Gefühl für das Jdyllische, oder das Gefühl für die Natur, oder p2b_013.011
das religiöse Gefühl, oder das Gefühl für die Liebe.
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3. Die Eigenart des Dichters zeigt sich in der besonderen, dichterischen p2b_013.013
Behandlung seines Stoffes, was Geibel, zwar etwas nachlässig in Form und p2b_013.014
Sprache, doch erschöpfend und wahr so ausdrückt:
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„Das ist des Lyrikers Kunst, aussprechen was allen gemein ist, p2b_013.016
Wie er's im tiefsten Gemüt neu und besonders erschuf; p2b_013.017
Oder dem Eigensten auch solch allverständlich Gepräge p2b_013.018
Leih'n, daß jeglicher drin staunend sich selber erkennt.“
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(Geibel, Distichen XVI.)
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§ 9. Anforderungen an den Lyriker. p2b_013.021
1. Vom Lyriker verlangen wir Wahrheit der Empfindung, Empfänglichkeit p2b_013.022
für alles Schöne, Zartheit des Gemüts, welches leicht in p2b_013.023
Schwingungen versetzt wird und das Jdeale rein darzustellen vermag, p2b_013.024
Harmonie des Seelenlebens.
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2. Der Dichter muß erhöht empfinden.
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3. Er muß der Gegenstand seiner Lyrik sein.
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1. „Ein volles, ganz von einer Empfindung volles Herz ist es, was den p2b_013.028
Lyriker macht“, sagt Goethe. Wir sehen dem Lyriker nichts nach, weil seine p2b_013.029
Gefühle auch die unsrigen sind. Wir dichten mit ihm und hassen jede Aufdringlichkeit p2b_013.030
von Gefühlen, weil wir alle Mittelempfindungen genau kennen, p2b_013.031
oder sogar mitempfinden. Wir sind erzürnt über Anmaßung, wie über allzu p2b_013.032
naive Kindlichkeit und rügen es, wenn der Lyriker aus seiner eigenen Gefühlssphäre p2b_013.033
heraustritt. Der Lyriker soll sich selbst seine ganze Welt sein, ohne p2b_013.034
darnach zu fragen, wer ihn höre.
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Jch, der Dichter, oder sie? p2b_013.037
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Sondert Jhr's, ich sondr' es nie.“
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Das ist der wahre Lyriker, der, unbekümmert um die Außenwelt, seinen p2b_013.040
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der nicht aus seinen Empfindungen Kapital schlagen will, der singet „wie der p2b_013.042
Vogel singt“. (Vgl. § 1. 2 d. Bds.)
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