Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883.p2b_012.001 p2b_012.026Die Einsame. p2b_012.002 "Vor meinem Kämmerlein fließet p2b_012.003 Ein Wasser bei Tag und Nacht; p2b_012.004 Jch seh' ihm zu vom Fenster, p2b_012.005 Wenn einsam mein Leid erwacht. p2b_012.006 Mir wird so traurig zu Mute p2b_012.007 Bei seinem eiligen Lauf; p2b_012.008 Die Wellen ziehen hinunter p2b_012.009 Und kommen nimmer herauf." p2b_012.010 p2b_012.013 p2b_012.016 "Hier ist Rhodus! Tanze du Wicht, p2b_012.025 (Goethe.)Und der Gelegenheit schaff' ein Gedicht!" § 8. Eigenart des Lyrikers. p2b_012.027 p2b_012.029 p2b_012.033 p2b_012.037 p2b_012.001 p2b_012.026Die Einsame. p2b_012.002 „Vor meinem Kämmerlein fließet p2b_012.003 Ein Wasser bei Tag und Nacht; p2b_012.004 Jch seh' ihm zu vom Fenster, p2b_012.005 Wenn einsam mein Leid erwacht. p2b_012.006 Mir wird so traurig zu Mute p2b_012.007 Bei seinem eiligen Lauf; p2b_012.008 Die Wellen ziehen hinunter p2b_012.009 Und kommen nimmer herauf.“ p2b_012.010 p2b_012.013 p2b_012.016 „Hier ist Rhodus! Tanze du Wicht, p2b_012.025 (Goethe.)Und der Gelegenheit schaff' ein Gedicht!“ § 8. 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Dadurch unterscheidet sich der echte Lyriker vom Nachahmer, daß ihn <lb n="p2b_012.011"/> allenthalben die Stoffe poetisch ansehen, daß sich ihm alles in Liederstoff verwandelt.</p> <lb n="p2b_012.012"/> <p><lb n="p2b_012.013"/> 4. „Wie Thränen, die uns plötzlich kommen, so kommen plötzlich unsre <lb n="p2b_012.014"/> Lieder“ sagt Heine und bestätigt dadurch, daß die unter der Anschauung der <lb n="p2b_012.015"/> Dinge entstandenen lyrischen Gedichte Gelegenheitsgedichte sind.</p> <p><lb n="p2b_012.016"/> Diese Ansicht sprach vor allen Goethe in den Gesprächen mit Eckermann <lb n="p2b_012.017"/> <hi rendition="#aq">I</hi>. S. 54, aus, indem er sagte: „Die Welt ist so groß und das Reich des <lb n="p2b_012.018"/> Lebens so mannigfaltig, daß es an Anläufen zu Gedichten nie fehlen wird. <lb n="p2b_012.019"/> Aber es müssen alles <hi rendition="#g">Gelegenheitsgedichte</hi> sein, d. h. die Wirklichkeit muß <lb n="p2b_012.020"/> die Veranlassung und den Stoff dazu hergeben. Allgemein und poetisch wird <lb n="p2b_012.021"/> ein specieller Fall eben dadurch, daß ihn der Dichter behandelt. <hi rendition="#g">Alle meine <lb n="p2b_012.022"/> Gedichte sind Gelegenheitsgedichte;</hi> sie sind durch die Wirklichkeit angeregt <lb n="p2b_012.023"/> und haben darin Grund und Boden.“</p> <lb n="p2b_012.024"/> <p> <lg> <l>„Hier ist Rhodus! Tanze du Wicht,</l> <lb n="p2b_012.025"/> <l>Und der Gelegenheit schaff' ein Gedicht!“</l> </lg> <hi rendition="#right">(Goethe.)</hi> </p> </div> <lb n="p2b_012.026"/> <div n="4"> <head> <hi rendition="#c">§ 8. Eigenart des Lyrikers.</hi> </head> <p><lb n="p2b_012.027"/> 1. Jeder echte Dichter hat seine besondere Geisteswelt, seine eigenartige <lb n="p2b_012.028"/> Natur- und Weltanschauung, seine eigenartige Behandlungsweise.</p> <p><lb n="p2b_012.029"/> 2. Die Ursprünglichkeit des dichterischen Jngeniums verwechselt <lb n="p2b_012.030"/> der Nachahmer meist mit einer „surrogativen, objektiven Originalität“, <lb n="p2b_012.031"/> mit der Originalität der Stoffe, die doch ─ wie im vorigen Paragraphen <lb n="p2b_012.032"/> erwähnt ─ in der Lyrik ewig die gleichen sind.</p> <p><lb n="p2b_012.033"/> 3. Lediglich die Eigenart des Lyrikers in der Behandlung und <lb n="p2b_012.034"/> seine subjektive Auffassung, nicht aber der objektive Stoff, der immerhin <lb n="p2b_012.035"/> die Anregung und die Veranlassung zum Gedicht werden kann, <lb n="p2b_012.036"/> sind in der Lyrik das Wesentliche.</p> <p><lb n="p2b_012.037"/> 1. Die Art und Weise, wie die Empfindung des Dichters künstlerische <lb n="p2b_012.038"/> Gestalt annimmt, zeigt die Eigenart des Dichters, der seinen Stoff je nach <lb n="p2b_012.039"/> seiner Bedeutung verständnisvoll abklären und dichterisch idealisieren wird. <lb n="p2b_012.040"/> Gleiche äußere Anlässe bei verschiedenen Lyrikern erzeugen doch nicht gleiche <lb n="p2b_012.041"/> Lyrik (siehe § 2). Dem wahren Dichter und seiner Assimilationskraft tritt zwar <lb n="p2b_012.042"/> der äußere Stoff als Liederstoff entgegen, aber als ein durch eigenartige <lb n="p2b_012.043"/> Behandlungsweise individuell und subjektiv werdender.</p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [12/0034]
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Die Einsame. p2b_012.002
„Vor meinem Kämmerlein fließet p2b_012.003
Ein Wasser bei Tag und Nacht; p2b_012.004
Jch seh' ihm zu vom Fenster, p2b_012.005
Wenn einsam mein Leid erwacht.
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Mir wird so traurig zu Mute p2b_012.007
Bei seinem eiligen Lauf; p2b_012.008
Die Wellen ziehen hinunter p2b_012.009
Und kommen nimmer herauf.“
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3. Dadurch unterscheidet sich der echte Lyriker vom Nachahmer, daß ihn p2b_012.011
allenthalben die Stoffe poetisch ansehen, daß sich ihm alles in Liederstoff verwandelt.
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4. „Wie Thränen, die uns plötzlich kommen, so kommen plötzlich unsre p2b_012.014
Lieder“ sagt Heine und bestätigt dadurch, daß die unter der Anschauung der p2b_012.015
Dinge entstandenen lyrischen Gedichte Gelegenheitsgedichte sind.
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Diese Ansicht sprach vor allen Goethe in den Gesprächen mit Eckermann p2b_012.017
I. S. 54, aus, indem er sagte: „Die Welt ist so groß und das Reich des p2b_012.018
Lebens so mannigfaltig, daß es an Anläufen zu Gedichten nie fehlen wird. p2b_012.019
Aber es müssen alles Gelegenheitsgedichte sein, d. h. die Wirklichkeit muß p2b_012.020
die Veranlassung und den Stoff dazu hergeben. Allgemein und poetisch wird p2b_012.021
ein specieller Fall eben dadurch, daß ihn der Dichter behandelt. Alle meine p2b_012.022
Gedichte sind Gelegenheitsgedichte; sie sind durch die Wirklichkeit angeregt p2b_012.023
und haben darin Grund und Boden.“
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„Hier ist Rhodus! Tanze du Wicht, p2b_012.025
Und der Gelegenheit schaff' ein Gedicht!“
(Goethe.)
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§ 8. Eigenart des Lyrikers. p2b_012.027
1. Jeder echte Dichter hat seine besondere Geisteswelt, seine eigenartige p2b_012.028
Natur- und Weltanschauung, seine eigenartige Behandlungsweise.
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2. Die Ursprünglichkeit des dichterischen Jngeniums verwechselt p2b_012.030
der Nachahmer meist mit einer „surrogativen, objektiven Originalität“, p2b_012.031
mit der Originalität der Stoffe, die doch ─ wie im vorigen Paragraphen p2b_012.032
erwähnt ─ in der Lyrik ewig die gleichen sind.
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3. Lediglich die Eigenart des Lyrikers in der Behandlung und p2b_012.034
seine subjektive Auffassung, nicht aber der objektive Stoff, der immerhin p2b_012.035
die Anregung und die Veranlassung zum Gedicht werden kann, p2b_012.036
sind in der Lyrik das Wesentliche.
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1. Die Art und Weise, wie die Empfindung des Dichters künstlerische p2b_012.038
Gestalt annimmt, zeigt die Eigenart des Dichters, der seinen Stoff je nach p2b_012.039
seiner Bedeutung verständnisvoll abklären und dichterisch idealisieren wird. p2b_012.040
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Lyrik (siehe § 2). Dem wahren Dichter und seiner Assimilationskraft tritt zwar p2b_012.042
der äußere Stoff als Liederstoff entgegen, aber als ein durch eigenartige p2b_012.043
Behandlungsweise individuell und subjektiv werdender.
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