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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883.

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freier, verantwortungsreicher, als der einer psychologischen Gestaltung wenig p2b_436.002
fähige typische Held der Griechen, über dessen Haupt sein Schicksal schwebt.

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Wir haben für Fatalismus nur Leichtsinn, Unbesonnenheit.

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Die Verschiedenheit unserer tragischen Helden wird auch durch unsere christliche p2b_436.005
Anschauung bedingt. Schopenhauer sagt in dieser Beziehung: Wie der p2b_436.006
stoische Gleichmut von der christlichen Resignation von Grund aus sich dadurch p2b_436.007
unterscheidet, daß er nur gelassenes Ertragen und gefaßtes Erwarten der unabänderlich p2b_436.008
notwendigen Übel lehrt, das Christentum aber Entsagung, Aufgeben p2b_436.009
des Wollens: ebenso zeigen die tragischen Helden der Alten standhaftes Unterwerfen p2b_436.010
unter die unausweichlichen Schläge des Schicksals, das christliche Trauerspiel p2b_436.011
dagegen Aufgeben des ganzen Willens zum Leben, freudiges Verlassen p2b_436.012
der Welt, im Bewußtsein ihrer Wertlosigkeit und Nichtigkeit. Es würde sich p2b_436.013
hienach die Wirkung des antiken zu der des modernen Trauerspiels zwar nicht p2b_436.014
völlig, aber doch beiläufig wie der Wert einer negativen zu dem einer positiven p2b_436.015
Größe stellen. (Vgl. Siebenlist a. a. O. 42.)

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4. Die Anschauungen der Griechen von dramatischer Vollkommenheit mußten p2b_436.017
auch aus inneren Gründen von den unsrigen abweichen. Bei ihnen findet p2b_436.018
man allenthalben Heroismus, heroische Sujets, der Schwerpunkt ihrer Katastrophen p2b_436.019
fällt in die Staatsidee, in den Staatszweck, während bei uns die p2b_436.020
Liebe und die Liebesintrigue als ein Hauptmotiv der Tragödie eine große Rolle p2b_436.021
spielt. Bei den Griechen hatte das Weib eine untergeordnete Stellung, während p2b_436.022
es uns ebenbürtige Genossin ist, so daß unsere Tragödien eine Reihe hocherhabener p2b_436.023
Frauencharaktere aufweisen. Wie somit die Griechen die modernideale p2b_436.024
Liebe (die Geschlechtsliebe) als treibendes Moment in der Tragödie nicht p2b_436.025
benützen konnten, so würden sie auch eine Tragödie nicht anerkannt haben, in p2b_436.026
welcher diese modern=ideale Liebe das belebende Agens gewesen wäre. p2b_436.027
Gebrochene Herzen aus verschmähter Liebe würden ihnen eben geradezu unverständlich p2b_436.028
gewesen sein. Allerdings hat Euripides in der Alkestis und im Hippolyt p2b_436.029
eine zärtliche Gattin und ein Weib im Kampf mit Unschuld und sinnlicher p2b_436.030
Leidenschaft vorgeführt; aber die Behandlung und dichterisch leidenschaftliche p2b_436.031
Entfaltung unterscheidet sich doch grundwesentlich von unserer modern=deutschen, p2b_436.032
aus dem Christentum erwachsenen Behandlungsweise.

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Die Griechen besaßen große Helden mit einer gewaltigen Leidenschaft; ich p2b_436.034
erinnere an den zürnenden Achill, den rasenden Aias, die rachebrütende Elektra p2b_436.035
(paison ei stheneis diplen), die alles der Pietät opfernde Antigone, die p2b_436.036
rachesüchtige Medea &c.; aber sie besaßen aus dem obigen Grund keine Liebeshelden, p2b_436.037
keinen Romeo, keine Julia. Siebenlist (a. a. O. S. 424) sagt: Von p2b_436.038
Äschylos darf man behaupten, er habe nicht ohne volles Bewußtsein von den p2b_436.039
gewöhnlichen erotischen Stoffen keinen Gebrauch gemacht. Wenigstens rechnet p2b_436.040
er es sich bei Aristophanes sogar zum Verdienst an, niemals ein liebendes Weib p2b_436.041
auf die Bühne gebracht zu haben. Dafür schildert er eine Abart der Liebe, p2b_436.042
die, mag sie auch ihrer ideellen Seite nach nichts Bedenkliches haben, gleichwohl p2b_436.043
immerhin etwas Fremdartiges an sich trägt, das dem modernen Menschen selbst p2b_436.044
durch Paul Heyses Tragödie Hadrian, in welcher das Verhältnis dieses edlen

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Wir haben für Fatalismus nur Leichtsinn, Unbesonnenheit.

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Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/458>, abgerufen am 22.11.2024.