p2b_027.001 auf die guten und schlechten Seiten derselben aufmerksam. Jhre Lippen umschwebt p2b_027.002 ein launiges Lächeln, wenn einer ihrer Lieblinge irgend eine Thorheit p2b_027.003 begeht. Aber die Kinder werden größer, sie werden den Stürmen des Lebens p2b_027.004 ausgesetzt, ihr Charakter bewährt sich. Nun bekommt die Dichterin selbst Respekt p2b_027.005 vor ihren Zöglingen. Sie wird ernst und steht dem jungen Herzen als treue p2b_027.006 Ratgeberin zur Seite. Wo aber endlich das Gefühl über Phantasie und p2b_027.007 Verstand triumphiert, da kommt der sentimentale Stil zum Vorschein. Der p2b_027.008 Dichter steht gleichsam unter seinem Stoffe und schaut mit Ehrfurcht zu ihm p2b_027.009 herauf. Sein Gegenstand begeistert ihn, er ist mehr Redner als Erzähler; er p2b_027.010 kennt die Wirkungen der Rhetorik und sucht mit ihren Mitteln zu wirken, die p2b_027.011 Gesetze der Objektivität sind ihm fremd. Unzweifelhaft ist der objektive (naive) p2b_027.012 Stil der dem Wesen der Dichtkunst am Meisten entsprechende. Er verleiht p2b_027.013 dem Kunstwerk einen großen Teil von Selbständigkeit. Zugleich aber bekundet p2b_027.014 er, daß der Dichter den höchsten Gipfel seiner Kunst erreicht hat.
p2b_027.015
Proben des epischen Stils:
p2b_027.016 a. Naiver Stil. (Bruchstück aus Goethes "Wilhelm Meister". Werke p2b_027.017 XVI. S. 102.)
p2b_027.018 "Ein Mädchen, das Rosen und andere Blumen herumtrug, bot ihm ihren p2b_027.019 Korb dar, und er kaufte sich einen schönen Strauß, den er mit Liebhaberei p2b_027.020 anders band und mit Zufriedenheit betrachtete, als das Fenster eines an der p2b_027.021 Seite des Platzes stehenden andern Gasthauses sich aufthat, und ein wohlgebildetes p2b_027.022 Frauenzimmer sich an demselben zeigte. Er konnte ungeachtet der p2b_027.023 Entfernung bemerken, daß eine angenehme Heiterkeit ihr Gesicht belebte. Jhre p2b_027.024 blonden Haare fielen nachlässig aufgelöst um ihren Nacken; sie schien sich nach p2b_027.025 dem Fremden umzusehen. Einige Zeit darauf trat ein Knabe, der eine Frisierschürze p2b_027.026 umgegürtet und ein weißes Jäckchen anhatte, aus der Thüre jenes p2b_027.027 Hauses, ging auf Wilhelmen zu, begrüßte ihn und sagte: Das Frauenzimmer p2b_027.028 am Fenster läßt Sie fragen, ob Sie ihr nicht einen Teil der schönen Blumen p2b_027.029 abtreten wollen? - Sie stehen ihr alle zu Diensten, versetzte Wilhelm, indem p2b_027.030 er dem leichten Boten das Bouquet überreichte, und zugleich der Schönen ein p2b_027.031 Kompliment machte, welches sie mit einem freundlichen Gegengruß erwiderte, p2b_027.032 und sich vom Fenster zurückzog. Nachdenkend über dieses artige Abenteuer p2b_027.033 ging er nach seinem Zimmer die Treppe hinauf, als ein junges Geschöpf ihm p2b_027.034 entgegen sprang, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein kurzes seidenes p2b_027.035 Westchen mit geschlitzten spanischen Ärmeln, knappe lange Beinkleider mit Puffen p2b_027.036 standen dem Kinde gar artig. Lange schwarze Haare waren in Locken und p2b_027.037 Zöpfen um den Kopf gekräuselt und gewunden. Er sah die Gestalt mit Verwunderung p2b_027.038 an u. s. w." (Vgl. Bd. I S. 103.)
p2b_027.039 b. Jronischer Stil. (Bruchstück aus Jean Pauls Belagerung der p2b_027.040 Reichsfestung Ziebingen.)
p2b_027.041 Das Reichsstädtchen Diebsfehra - nicht das meißnische Dorf - besaß p2b_027.042 mit Ziebingen auf den Grenzen eine Gemeinehut, worauf beide Städte ihre p2b_027.043 Gänse weiden durften. Unglücklicher Weise fiel den 4. Mai ein so starker
p2b_027.001 auf die guten und schlechten Seiten derselben aufmerksam. Jhre Lippen umschwebt p2b_027.002 ein launiges Lächeln, wenn einer ihrer Lieblinge irgend eine Thorheit p2b_027.003 begeht. Aber die Kinder werden größer, sie werden den Stürmen des Lebens p2b_027.004 ausgesetzt, ihr Charakter bewährt sich. Nun bekommt die Dichterin selbst Respekt p2b_027.005 vor ihren Zöglingen. Sie wird ernst und steht dem jungen Herzen als treue p2b_027.006 Ratgeberin zur Seite. Wo aber endlich das Gefühl über Phantasie und p2b_027.007 Verstand triumphiert, da kommt der sentimentale Stil zum Vorschein. Der p2b_027.008 Dichter steht gleichsam unter seinem Stoffe und schaut mit Ehrfurcht zu ihm p2b_027.009 herauf. Sein Gegenstand begeistert ihn, er ist mehr Redner als Erzähler; er p2b_027.010 kennt die Wirkungen der Rhetorik und sucht mit ihren Mitteln zu wirken, die p2b_027.011 Gesetze der Objektivität sind ihm fremd. Unzweifelhaft ist der objektive (naive) p2b_027.012 Stil der dem Wesen der Dichtkunst am Meisten entsprechende. Er verleiht p2b_027.013 dem Kunstwerk einen großen Teil von Selbständigkeit. Zugleich aber bekundet p2b_027.014 er, daß der Dichter den höchsten Gipfel seiner Kunst erreicht hat.
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Proben des epischen Stils:
p2b_027.016 a. Naiver Stil. (Bruchstück aus Goethes „Wilhelm Meister“. Werke p2b_027.017 XVI. S. 102.)
p2b_027.018 „Ein Mädchen, das Rosen und andere Blumen herumtrug, bot ihm ihren p2b_027.019 Korb dar, und er kaufte sich einen schönen Strauß, den er mit Liebhaberei p2b_027.020 anders band und mit Zufriedenheit betrachtete, als das Fenster eines an der p2b_027.021 Seite des Platzes stehenden andern Gasthauses sich aufthat, und ein wohlgebildetes p2b_027.022 Frauenzimmer sich an demselben zeigte. Er konnte ungeachtet der p2b_027.023 Entfernung bemerken, daß eine angenehme Heiterkeit ihr Gesicht belebte. Jhre p2b_027.024 blonden Haare fielen nachlässig aufgelöst um ihren Nacken; sie schien sich nach p2b_027.025 dem Fremden umzusehen. Einige Zeit darauf trat ein Knabe, der eine Frisierschürze p2b_027.026 umgegürtet und ein weißes Jäckchen anhatte, aus der Thüre jenes p2b_027.027 Hauses, ging auf Wilhelmen zu, begrüßte ihn und sagte: Das Frauenzimmer p2b_027.028 am Fenster läßt Sie fragen, ob Sie ihr nicht einen Teil der schönen Blumen p2b_027.029 abtreten wollen? ─ Sie stehen ihr alle zu Diensten, versetzte Wilhelm, indem p2b_027.030 er dem leichten Boten das Bouquet überreichte, und zugleich der Schönen ein p2b_027.031 Kompliment machte, welches sie mit einem freundlichen Gegengruß erwiderte, p2b_027.032 und sich vom Fenster zurückzog. Nachdenkend über dieses artige Abenteuer p2b_027.033 ging er nach seinem Zimmer die Treppe hinauf, als ein junges Geschöpf ihm p2b_027.034 entgegen sprang, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein kurzes seidenes p2b_027.035 Westchen mit geschlitzten spanischen Ärmeln, knappe lange Beinkleider mit Puffen p2b_027.036 standen dem Kinde gar artig. Lange schwarze Haare waren in Locken und p2b_027.037 Zöpfen um den Kopf gekräuselt und gewunden. Er sah die Gestalt mit Verwunderung p2b_027.038 an u. s. w.“ (Vgl. Bd. I S. 103.)
p2b_027.039 b. Jronischer Stil. (Bruchstück aus Jean Pauls Belagerung der p2b_027.040 Reichsfestung Ziebingen.)
p2b_027.041 Das Reichsstädtchen Diebsfehra ─ nicht das meißnische Dorf ─ besaß p2b_027.042 mit Ziebingen auf den Grenzen eine Gemeinehut, worauf beide Städte ihre p2b_027.043 Gänse weiden durften. Unglücklicher Weise fiel den 4. Mai ein so starker
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auf die guten und schlechten Seiten derselben aufmerksam. Jhre Lippen umschwebt p2b_027.002
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ausgesetzt, ihr Charakter bewährt sich. Nun bekommt die Dichterin selbst Respekt p2b_027.005
vor ihren Zöglingen. Sie wird ernst und steht dem jungen Herzen als treue p2b_027.006
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Verstand triumphiert, da kommt der sentimentale Stil zum Vorschein. Der p2b_027.008
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dem Kunstwerk einen großen Teil von Selbständigkeit. Zugleich aber bekundet p2b_027.014
er, daß der Dichter den höchsten Gipfel seiner Kunst erreicht hat.
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Proben des epischen Stils: p2b_027.016
a. Naiver Stil. (Bruchstück aus Goethes „Wilhelm Meister“. Werke p2b_027.017
XVI. S. 102.)
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„Ein Mädchen, das Rosen und andere Blumen herumtrug, bot ihm ihren p2b_027.019
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umgegürtet und ein weißes Jäckchen anhatte, aus der Thüre jenes p2b_027.027
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am Fenster läßt Sie fragen, ob Sie ihr nicht einen Teil der schönen Blumen p2b_027.029
abtreten wollen? ─ Sie stehen ihr alle zu Diensten, versetzte Wilhelm, indem p2b_027.030
er dem leichten Boten das Bouquet überreichte, und zugleich der Schönen ein p2b_027.031
Kompliment machte, welches sie mit einem freundlichen Gegengruß erwiderte, p2b_027.032
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ging er nach seinem Zimmer die Treppe hinauf, als ein junges Geschöpf ihm p2b_027.034
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Westchen mit geschlitzten spanischen Ärmeln, knappe lange Beinkleider mit Puffen p2b_027.036
standen dem Kinde gar artig. Lange schwarze Haare waren in Locken und p2b_027.037
Zöpfen um den Kopf gekräuselt und gewunden. Er sah die Gestalt mit Verwunderung p2b_027.038
an u. s. w.“ (Vgl. Bd. I S. 103.)
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b. Jronischer Stil. (Bruchstück aus Jean Pauls Belagerung der p2b_027.040
Reichsfestung Ziebingen.)
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/49>, abgerufen am 24.11.2024.
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