p2b_470.001 kunstvoll verwebte und ineinander gefügte Thatsachen zu wirken und zu entscheiden p2b_470.002 (eine der deutschen Litteratur durchaus fern liegende Fertigkeit, weil der p2b_470.003 Deutsche, der aus seiner tieferen Anlage nicht diesen Reichtum an Handlung zu p2b_470.004 schaffen weiß, wesentlich innere Motive, psychologische Wandlungen und damit p2b_470.005 eine wahrhaft dramatische Vorbereitung der Handlung in ihrem Beginn, in ihrem p2b_470.006 Fortgang und in ihren Verwicklungen fordert), entsprießt das Stück dem p2b_470.007 Diplomatensalon zweiten oder dritten Ranges (d. h. dem anrüchigen Salon p2b_470.008 der diplomatischen Agenten, Nachrichtenvermittler, Spione, Abenteurer und Jntriguanten, p2b_470.009 der nie verheiratet gewesenen Witwen, der Fürstinnen und Gräfinnen p2b_470.010 ohne Adelsbrief aus aller Herren Ländern). Ein Hauptgeheimnis der Wirkung p2b_470.011 ist, daß der Dichter alle genrebildlichen, episodisch aneinander klebenden Momente p2b_470.012 der ersten Akte - seiner Gewohnheit gemäß - in zwei großen Scenenp2b_470.013 (der Peripetie des vierten Aktes und der Katastrophe des fünften) vereint. Jn p2b_470.014 diesen beiden Scenen entfaltet er seine ganze Wirkung und sein gewaltiges p2b_470.015 dramatisches Talent, so daß die aneinander gefügten Momente der drei ersten p2b_470.016 Akte wie eine langgezogene Exposition sich ausnehmen. Die nach deutschen p2b_470.017 Begriffen wunderliche, abenteuernde Gesellschaft, welche der Dichter zur Unterlage p2b_470.018 für sein Kunstwerk wählt, kennt die landläufige, bürgerliche Moral nicht; p2b_470.019 sie ist bezahlt und schreckt vor keinem Abenteuer, vor keinem Mittel, selbst nicht p2b_470.020 vor offenem Dokumentendiebstahl zurück. Natürlich brütet in den Salons dieser p2b_470.021 Gesellschaft eine schwüle, beängstigende Luft, und es ist psychologisch motiviert, p2b_470.022 daß dem in diese Kreise Hineingezogenen, aber innerlich ihnen Fernstehenden, p2b_470.023 selbst die reineren Elemente, die doch in jener Atmosphäre leben, von ihr infiziert p2b_470.024 erscheinen. Diesem Motiv entlehnt das Bild seine mannigfaltig wechselnden Farben.
p2b_470.025 Jn heller Glorie der Unschuld, naiver Reinheit der Gesinnung und des p2b_470.026 tief=innerlichen Frauengefühls hebt sich von dieser korrumpierten Gesellschaft die p2b_470.027 ideale Hauptfigur des Stückes (Dora) ab.
p2b_470.028 Sie hat keine Ahnung von den Machinationen, Jntriguen und Zwecken p2b_470.029 ihrer Umgebung; sie schließt ein ideales Liebesverhältnis und gerät schon am p2b_470.030 Hochzeitstage bei ihrem Gatten selbst in den durch gravierende Jndizien bestärkten p2b_470.031 Verdacht der diplomatischen Korrespondenz und des Diebstahls wichtiger p2b_470.032 Dokumente. Hat sich aber schon in der Exposition ihr geistiger Gehalt in der p2b_470.033 entrüsteten Zurückweisung eines frechen Zudringlings gezeigt, so manifestiert sich p2b_470.034 derselbe besonders in der großen Scene des 4. Aktes, in welcher der Dichter p2b_470.035 die echt dramatische Pointe entfaltet. Es ist die Unleugbarkeit zwingender Thatsachen, p2b_470.036 die mit unheimlicher Gewalt den Verdacht auf Dora lenkt, die den p2b_470.037 liebenden, vertrauenden, edlen Andre von Maurillac dem qualvollsten Zweifel p2b_470.038 verfallen läßt, dem andererseits wieder Dora's Unschuld und Reinheit mit Recht p2b_470.039 das stumme, wie in Schmerz erstarrende Zurückweisen jedes Versuchs einer Verteidigung p2b_470.040 entgegenstellt. Das Gefühl der zart weiblichen, gekränkten Frauenehre p2b_470.041 und der unbelohnten Liebe bäumt sich auf in edlem Frauenstolz gegen p2b_470.042 Verkennung und entehrende Verdächtigung; sie verlangt Glauben an ihre Unschuld, p2b_470.043 eine auf Achtung ihres Frauenwertes gegründete Liebe, und bricht p2b_470.044 wie ihr junges Glück unter den wuchtigen Schlägen der unabänderlichen Vorgänge
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p2b_470.025 Jn heller Glorie der Unschuld, naiver Reinheit der Gesinnung und des p2b_470.026 tief=innerlichen Frauengefühls hebt sich von dieser korrumpierten Gesellschaft die p2b_470.027 ideale Hauptfigur des Stückes (Dora) ab.
p2b_470.028 Sie hat keine Ahnung von den Machinationen, Jntriguen und Zwecken p2b_470.029 ihrer Umgebung; sie schließt ein ideales Liebesverhältnis und gerät schon am p2b_470.030 Hochzeitstage bei ihrem Gatten selbst in den durch gravierende Jndizien bestärkten p2b_470.031 Verdacht der diplomatischen Korrespondenz und des Diebstahls wichtiger p2b_470.032 Dokumente. Hat sich aber schon in der Exposition ihr geistiger Gehalt in der p2b_470.033 entrüsteten Zurückweisung eines frechen Zudringlings gezeigt, so manifestiert sich p2b_470.034 derselbe besonders in der großen Scene des 4. Aktes, in welcher der Dichter p2b_470.035 die echt dramatische Pointe entfaltet. Es ist die Unleugbarkeit zwingender Thatsachen, p2b_470.036 die mit unheimlicher Gewalt den Verdacht auf Dora lenkt, die den p2b_470.037 liebenden, vertrauenden, edlen André von Maurillac dem qualvollsten Zweifel p2b_470.038 verfallen läßt, dem andererseits wieder Dora's Unschuld und Reinheit mit Recht p2b_470.039 das stumme, wie in Schmerz erstarrende Zurückweisen jedes Versuchs einer Verteidigung p2b_470.040 entgegenstellt. Das Gefühl der zart weiblichen, gekränkten Frauenehre p2b_470.041 und der unbelohnten Liebe bäumt sich auf in edlem Frauenstolz gegen p2b_470.042 Verkennung und entehrende Verdächtigung; sie verlangt Glauben an ihre Unschuld, p2b_470.043 eine auf Achtung ihres Frauenwertes gegründete Liebe, und bricht p2b_470.044 wie ihr junges Glück unter den wuchtigen Schlägen der unabänderlichen Vorgänge
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 470. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/492>, abgerufen am 22.11.2024.
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