p2b_476.001 Wehmut darf diesen Eindruck stören. Der Lustspieldichter muß alle trüben p2b_476.002 Farben aus seiner Darstellung verbannen, die höchstens nur wie Schatten in p2b_476.003 einem Gemälde angelegt werden dürfen. Jede Rührung, die eine Thräne p2b_476.004 erpreßt, muß dem Lustspiele fremd bleiben."
p2b_476.005 Der Tragödie ist die Wirklichkeit tragisch, der Komödie nur komisch, sofern p2b_476.006 sich in ihr Unverstand und Verkehrtheiten der Menschen zeigen. Die Geschichte p2b_476.007 zeigt allenthalben eine tragische Jdee, weshalb ein historisches Drama dem Stoff p2b_476.008 nach eigentlich nur Tragödie (oder Schauspiel) sein kann. Aber die noch nicht p2b_476.009 zur Geschichte gewordene Wirklichkeit und Gegenwart, die noch nicht so objektiviert p2b_476.010 ist, daß man überall jene tragische Jdee wahrzunehmen vermöchte: sie p2b_476.011 kann nur in ideale Beziehung gebracht werden zur oberflächlicheren Jdee der p2b_476.012 komischen Poesie.
p2b_476.013 2. Daher wird der Lustspieldichter, selbst wo er die Larve früherer Jahrhunderte p2b_476.014 vorhält, immer nur seine Zeit meinen, d. h. den Charakter immer p2b_476.015 nach den Formen der Gegenwart individualisieren. Die Tragödie, deren p2b_476.016 Domäne also die Vergangenheit - die Geschichte - sein muß, ist demnach um p2b_476.017 vieles epischer als die Komödie, die mit Laune und Spott die Albernheiten der p2b_476.018 uns in allen Teilen bekannten Gegenwart übergießt und daher besonders im p2b_476.019 metrischen Lustspiel (vgl. S. 478 d. Bds.) dem lyrischen Element größeren Spielraum p2b_476.020 gewährt. Aristophanes hat nicht gefehlt, indem er den geschichtlichen p2b_476.021 Sokrates auf die Bühne brachte; denn er hatte es nur auf die Neigung seiner p2b_476.022 Zeit zu unpraktischem Philosophieren abgesehen; er faßte deshalb die ganze Art p2b_476.023 philosophierender Menschheit seiner Zeit in der Figur eines Sokrates zusammen, p2b_476.024 der ganz wenig mit dem historischen gemein haben sollte, und der ja auch Dinge p2b_476.025 sagte, die jener nie gesprochen haben würde. Auch Tiecks bekannter Prinz Zerbinop2b_476.026 zeigt, daß es der Komödie nie auf bestimmte geschichtliche Jndividuen, p2b_476.027 sondern auf ganze Arten ankomme. (Er hat für den Namen Nicolai den Namen p2b_476.028 Nestor gewählt, um dadurch seinen Angriff auf alle litterarischen Philister auszudehnen.)
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p2b_476.030 3. Die Jndividuen der Komödie - auch wenn sie einen historischen Stoff p2b_476.031 haben - sind somit gewissermaßen Jndividualisationen der Gegenwart, p2b_476.032 die eng mit der Handlung verknüpft sind. Der Lustspieldichter ist auf freies p2b_476.033 Erfinden auch der Handlung hingewiesen, was dem Tragiker verwehrt ist, dem p2b_476.034 in seinem historischen Helden die tragische Jdee samt dem besonderen historischen p2b_476.035 Material gegeben ist. So kann die kecke Phantasie in Entfaltung von übermütiger p2b_476.036 Laune und ätzendem Spott im Lustspiel frei walten; der Verstand hat p2b_476.037 nur zu wachen, daß das Maß eingehalten werde, daß die Konzeption und die p2b_476.038 feine Verwickelung künstlerisch bleiben und nicht Planlosigkeit und Verwirrung p2b_476.039 eintritt.
p2b_476.040 3. Wenn die Überhebung des Helden über die göttliche Weltordnung den p2b_476.041 Konflikt in der Tragödie bewirkt, so resultiert derselbe in der Komödie aus p2b_476.042 menschlichem Unverstand, aus Albernheit, Thorheit, Verkehrtheit gegenüber den p2b_476.043 menschlichen Ansichten über Sitte, Sittlichkeit, Lebensweisheit, Denken, Empfinden, p2b_476.044 Reden, Handeln. Daher gestattet die Komödie dem Zufalle, welchen die
p2b_476.001 Wehmut darf diesen Eindruck stören. Der Lustspieldichter muß alle trüben p2b_476.002 Farben aus seiner Darstellung verbannen, die höchstens nur wie Schatten in p2b_476.003 einem Gemälde angelegt werden dürfen. Jede Rührung, die eine Thräne p2b_476.004 erpreßt, muß dem Lustspiele fremd bleiben.“
p2b_476.005 Der Tragödie ist die Wirklichkeit tragisch, der Komödie nur komisch, sofern p2b_476.006 sich in ihr Unverstand und Verkehrtheiten der Menschen zeigen. Die Geschichte p2b_476.007 zeigt allenthalben eine tragische Jdee, weshalb ein historisches Drama dem Stoff p2b_476.008 nach eigentlich nur Tragödie (oder Schauspiel) sein kann. Aber die noch nicht p2b_476.009 zur Geschichte gewordene Wirklichkeit und Gegenwart, die noch nicht so objektiviert p2b_476.010 ist, daß man überall jene tragische Jdee wahrzunehmen vermöchte: sie p2b_476.011 kann nur in ideale Beziehung gebracht werden zur oberflächlicheren Jdee der p2b_476.012 komischen Poesie.
p2b_476.013 2. Daher wird der Lustspieldichter, selbst wo er die Larve früherer Jahrhunderte p2b_476.014 vorhält, immer nur seine Zeit meinen, d. h. den Charakter immer p2b_476.015 nach den Formen der Gegenwart individualisieren. Die Tragödie, deren p2b_476.016 Domäne also die Vergangenheit ─ die Geschichte ─ sein muß, ist demnach um p2b_476.017 vieles epischer als die Komödie, die mit Laune und Spott die Albernheiten der p2b_476.018 uns in allen Teilen bekannten Gegenwart übergießt und daher besonders im p2b_476.019 metrischen Lustspiel (vgl. S. 478 d. Bds.) dem lyrischen Element größeren Spielraum p2b_476.020 gewährt. Aristophanes hat nicht gefehlt, indem er den geschichtlichen p2b_476.021 Sokrates auf die Bühne brachte; denn er hatte es nur auf die Neigung seiner p2b_476.022 Zeit zu unpraktischem Philosophieren abgesehen; er faßte deshalb die ganze Art p2b_476.023 philosophierender Menschheit seiner Zeit in der Figur eines Sokrates zusammen, p2b_476.024 der ganz wenig mit dem historischen gemein haben sollte, und der ja auch Dinge p2b_476.025 sagte, die jener nie gesprochen haben würde. Auch Tiecks bekannter Prinz Zerbinop2b_476.026 zeigt, daß es der Komödie nie auf bestimmte geschichtliche Jndividuen, p2b_476.027 sondern auf ganze Arten ankomme. (Er hat für den Namen Nicolai den Namen p2b_476.028 Nestor gewählt, um dadurch seinen Angriff auf alle litterarischen Philister auszudehnen.)
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p2b_476.030 3. Die Jndividuen der Komödie ─ auch wenn sie einen historischen Stoff p2b_476.031 haben ─ sind somit gewissermaßen Jndividualisationen der Gegenwart, p2b_476.032 die eng mit der Handlung verknüpft sind. Der Lustspieldichter ist auf freies p2b_476.033 Erfinden auch der Handlung hingewiesen, was dem Tragiker verwehrt ist, dem p2b_476.034 in seinem historischen Helden die tragische Jdee samt dem besonderen historischen p2b_476.035 Material gegeben ist. So kann die kecke Phantasie in Entfaltung von übermütiger p2b_476.036 Laune und ätzendem Spott im Lustspiel frei walten; der Verstand hat p2b_476.037 nur zu wachen, daß das Maß eingehalten werde, daß die Konzeption und die p2b_476.038 feine Verwickelung künstlerisch bleiben und nicht Planlosigkeit und Verwirrung p2b_476.039 eintritt.
p2b_476.040 3. Wenn die Überhebung des Helden über die göttliche Weltordnung den p2b_476.041 Konflikt in der Tragödie bewirkt, so resultiert derselbe in der Komödie aus p2b_476.042 menschlichem Unverstand, aus Albernheit, Thorheit, Verkehrtheit gegenüber den p2b_476.043 menschlichen Ansichten über Sitte, Sittlichkeit, Lebensweisheit, Denken, Empfinden, p2b_476.044 Reden, Handeln. Daher gestattet die Komödie dem Zufalle, welchen die
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erpreßt, muß dem Lustspiele fremd bleiben.“
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Der Tragödie ist die Wirklichkeit tragisch, der Komödie nur komisch, sofern p2b_476.006
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Nestor gewählt, um dadurch seinen Angriff auf alle litterarischen Philister auszudehnen.)
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3. Die Jndividuen der Komödie ─ auch wenn sie einen historischen Stoff p2b_476.031
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 476. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/498>, abgerufen am 22.11.2024.
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