p2b_532.002 Die Motette ist ein mehrstimmiger, fugenartiger oder figurierter, p2b_532.003 kirchlicher Chorgesang, welcher von einem Sängerchor ohne Jnstrumentalbegleitung p2b_532.004 in der Kirche vorgetragen wurde; den Text (Jnhalt) bildete p2b_532.005 ein Bibelspruch, oder auch ein frommer Spruch geistlichen Jnhalts, p2b_532.006 Sätze aus den Psalmen &c.
p2b_532.007 Jhrem Text entsprechend enthält die Motette ein oder mehrere p2b_532.008 in den verschiedensten Formen auftretende Hauptmotive &c.
p2b_532.009 Das Wort Motette (Motetto, Motet) leiten einige von mutare (Mutete) p2b_532.010 her, sofern die begleitenden Stimmen die Grundmelodie (cantus firmus) verändern p2b_532.011 oder wenden. Andere lassen es vom französischen Worte Mot (Sprüchlein, p2b_532.012 Bibelspruch) abstammen, sofern das Bibelwort (nämlich ein kurzer Bibelspruch) p2b_532.013 den Text bildete. Die Haltung der Motette und ihre Bewegung war von p2b_532.014 jeher ziemlich frei. Alle Künste des Kontrapunkts kamen in ihr zum Austrag, p2b_532.015 der Text wurde eine Zeit lang ganz als Nebensache behandelt, weshalb die p2b_532.016 Kirche mit Recht diese Art von Figuralmusik ausgeschlossen wissen wollte, bis p2b_532.017 Palestrina durch seine würdige Behandlung sie neu zur Bedeutung erhob und p2b_532.018 ihr Vollender Sebastian Bach ihr den Platz garantierte, den sie heute einnimmt. p2b_532.019 Da die Textsprüche der Motette ein Gemeingefühl ausdrücken, so ist p2b_532.020 es begreiflich, daß die Motette (die Zwittergattung der sog. kirchlichen Solo= p2b_532.021 Motetten der neueren Franzosen und Jtaliener ausgenommen) nur für Chorp2b_532.022 und zwar meist ohne Jnstrumentalbegleitung geschrieben wurde und wir in ihr p2b_532.023 hauptsächlich den polyphonen Stil als den geeigneten finden.
p2b_532.024 Die Motette war schon dem alten Frank (Franco) von Köln bekannt, p2b_532.025 der im Jahre 1083 als Scholastikus an der Kathedralkirche zu Lüttich starb. p2b_532.026 Er kannte sie als Chor ohne Jnstrumentalbegleitung, welcher den Text aus p2b_532.027 der Bibel, seinen als Grundlage dienenden Tenor (cantus firmus) jedoch p2b_532.028 aus dem Gregorianischen Kirchengesang entlehnt hatte. Während eine Stimme p2b_532.029 diesen Tenor (von tenere) vortrug, führten die übrigen Stimmen ihren Text p2b_532.030 zu Motiven aus dem cantus firmus oder auch aus freier Erfindung durch und p2b_532.031 umgaben so den ernsten gehaltenen Kirchengesang mit lebhaften Verzierungen, p2b_532.032 die in ihrer unkünstlerischen wechselvollen Weise dem Papst Johann XXII. p2b_532.033 mit Recht als Verunzierungen auffallen mußten.
p2b_532.034 Mit um so größerer Vorliebe hat die protestantische Kirche die Motette p2b_532.035 aufgenommen, die sich hier treu an das Bibelwort anschließen mußte, wobei p2b_532.036 sie sich im Cantus firmus mit einem Liedvers verschmelzen durfte. Luther, p2b_532.037 der für die Motetten Ludwig Senfls eine besondere Vorliebe empfand, sagt p2b_532.038 zum Preis der Musik in den Motetten: Jn welcher Musika vor allem das p2b_532.039 seltsam und zu verwundern ist, daß einer eine schlechte Weis oder Tenor hersinget, p2b_532.040 neben welcher 3, 4 oder 5 andere Stimmen auch gesungen werden, p2b_532.041 die um solche schlechte, einfältige Weise oder Tenor, gleich als mit Jauchzen p2b_532.042 rings herumher um solchen Tenor spielen und springen, und mit mancherlei
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§ 196. Die Motette.
p2b_532.002 Die Motette ist ein mehrstimmiger, fugenartiger oder figurierter, p2b_532.003 kirchlicher Chorgesang, welcher von einem Sängerchor ohne Jnstrumentalbegleitung p2b_532.004 in der Kirche vorgetragen wurde; den Text (Jnhalt) bildete p2b_532.005 ein Bibelspruch, oder auch ein frommer Spruch geistlichen Jnhalts, p2b_532.006 Sätze aus den Psalmen &c.
p2b_532.007 Jhrem Text entsprechend enthält die Motette ein oder mehrere p2b_532.008 in den verschiedensten Formen auftretende Hauptmotive &c.
p2b_532.009 Das Wort Motette (Motetto, Motet) leiten einige von mutare (Mutete) p2b_532.010 her, sofern die begleitenden Stimmen die Grundmelodie (cantus firmus) verändern p2b_532.011 oder wenden. Andere lassen es vom französischen Worte Mot (Sprüchlein, p2b_532.012 Bibelspruch) abstammen, sofern das Bibelwort (nämlich ein kurzer Bibelspruch) p2b_532.013 den Text bildete. Die Haltung der Motette und ihre Bewegung war von p2b_532.014 jeher ziemlich frei. Alle Künste des Kontrapunkts kamen in ihr zum Austrag, p2b_532.015 der Text wurde eine Zeit lang ganz als Nebensache behandelt, weshalb die p2b_532.016 Kirche mit Recht diese Art von Figuralmusik ausgeschlossen wissen wollte, bis p2b_532.017 Palestrina durch seine würdige Behandlung sie neu zur Bedeutung erhob und p2b_532.018 ihr Vollender Sebastian Bach ihr den Platz garantierte, den sie heute einnimmt. p2b_532.019 Da die Textsprüche der Motette ein Gemeingefühl ausdrücken, so ist p2b_532.020 es begreiflich, daß die Motette (die Zwittergattung der sog. kirchlichen Solo= p2b_532.021 Motetten der neueren Franzosen und Jtaliener ausgenommen) nur für Chorp2b_532.022 und zwar meist ohne Jnstrumentalbegleitung geschrieben wurde und wir in ihr p2b_532.023 hauptsächlich den polyphonen Stil als den geeigneten finden.
p2b_532.024 Die Motette war schon dem alten Frank (Franco) von Köln bekannt, p2b_532.025 der im Jahre 1083 als Scholastikus an der Kathedralkirche zu Lüttich starb. p2b_532.026 Er kannte sie als Chor ohne Jnstrumentalbegleitung, welcher den Text aus p2b_532.027 der Bibel, seinen als Grundlage dienenden Tenor (cantus firmus) jedoch p2b_532.028 aus dem Gregorianischen Kirchengesang entlehnt hatte. Während eine Stimme p2b_532.029 diesen Tenor (von tenere) vortrug, führten die übrigen Stimmen ihren Text p2b_532.030 zu Motiven aus dem cantus firmus oder auch aus freier Erfindung durch und p2b_532.031 umgaben so den ernsten gehaltenen Kirchengesang mit lebhaften Verzierungen, p2b_532.032 die in ihrer unkünstlerischen wechselvollen Weise dem Papst Johann XXII. p2b_532.033 mit Recht als Verunzierungen auffallen mußten.
p2b_532.034 Mit um so größerer Vorliebe hat die protestantische Kirche die Motette p2b_532.035 aufgenommen, die sich hier treu an das Bibelwort anschließen mußte, wobei p2b_532.036 sie sich im Cantus firmus mit einem Liedvers verschmelzen durfte. Luther, p2b_532.037 der für die Motetten Ludwig Senfls eine besondere Vorliebe empfand, sagt p2b_532.038 zum Preis der Musik in den Motetten: Jn welcher Musika vor allem das p2b_532.039 seltsam und zu verwundern ist, daß einer eine schlechte Weis oder Tenor hersinget, p2b_532.040 neben welcher 3, 4 oder 5 andere Stimmen auch gesungen werden, p2b_532.041 die um solche schlechte, einfältige Weise oder Tenor, gleich als mit Jauchzen p2b_532.042 rings herumher um solchen Tenor spielen und springen, und mit mancherlei
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Die Motette ist ein mehrstimmiger, fugenartiger oder figurierter, p2b_532.003
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Das Wort Motette (Motetto, Motet) leiten einige von mutare (Mutete) p2b_532.010
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Mit um so größerer Vorliebe hat die protestantische Kirche die Motette p2b_532.035
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Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Zweiter Band. Stuttgart, 1883, S. 532. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik02_1883/554>, abgerufen am 22.11.2024.
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