Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Dritter Band. Stuttgart, 1884.p3b_089.001 § 31. Bildung von Alexandrinerstrophen. p3b_089.002 p3b_089.005 p3b_089.009 p3b_089.012 p3b_089.016 p3b_089.023
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p3b_089.038 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0115" n="89"/> </div> <div n="2"> <lb n="p3b_089.001"/> <head> <hi rendition="#c">§ 31. Bildung von Alexandrinerstrophen.</hi> </head> <p><lb n="p3b_089.002"/> 1. Die einfachste Form einer Alexandrinerstrophe ist die Verbindung <lb n="p3b_089.003"/> von zwei Alexandrinerversen (vgl. § 6) zu einem Distichon <lb n="p3b_089.004"/> durch den Reim.</p> <p><lb n="p3b_089.005"/> 2. Die übrigen Formen entstehen aus der Verbindung von mehreren <lb n="p3b_089.006"/> Alexandrinerversen, von denen ─ zur Erlangung eines strophischen <lb n="p3b_089.007"/> Charakteristikums ─ in der Regel eine Zeile verkürzt wird (zuweilen <lb n="p3b_089.008"/> auch deren 2).</p> <p><lb n="p3b_089.009"/> 3. Man unterscheidet neunzeilige (Geibelsche Form), sechszeilige <lb n="p3b_089.010"/> (Freiligrathsche Form), seltener vierzeilige und fünfzeilige Alexandrinerstrophen.</p> <lb n="p3b_089.011"/> <p><lb n="p3b_089.012"/> 4. Jm Französischen finden wir mehrfach vierzeilige Alexandrinerstrophen <lb n="p3b_089.013"/> mit gekreuztem Reim (<hi rendition="#aq">a b a b</hi>), sowie (aus 4 + 9 zusammengesetzte) <lb n="p3b_089.014"/> dreizehnzeilige, bei denen der Schlußvers ein jambischer Viertakter <lb n="p3b_089.015"/> ist. (Vgl. z. B. Lamartine's <hi rendition="#aq">méditations poétiques</hi>.)</p> <p><lb n="p3b_089.016"/> 5. Jm Deutschen hat man sich (außer in Übersetzungen) zu <lb n="p3b_089.017"/> alexandrinischen Vierzeilen nicht entschließen mögen, wahrscheinlich weil <lb n="p3b_089.018"/> gekreuzte Reime (wegen der beträchtlichen Zeilenlänge des Alexandrinerverses <lb n="p3b_089.019"/> und der ständigen Diärese im 3. Takte) in architektonischer Beziehung <lb n="p3b_089.020"/> mißlich erscheinen mochten. Rückert hat mehrfach 2 Alexandriner= <lb n="p3b_089.021"/> Reimpaare (<hi rendition="#aq">a a b b</hi>) verbunden, wobei er meistenteils im Reimgeschlecht <lb n="p3b_089.022"/> wechselte.</p> <p><lb n="p3b_089.023"/> 6. Eine freundlich gebaute, uralte alexandrinische Vierzeilenform <lb n="p3b_089.024"/> mit gekreuzten Reimen danken wir v. Löwenstern († 1648). Die erste <lb n="p3b_089.025"/> Alexandrinerzeile dieser Form hat akatalektischen (männlichen), die 2. <lb n="p3b_089.026"/> und 4. hyperkatalektischen (weiblichen) Schluß; die 3. Zeile ist nur <lb n="p3b_089.027"/> ein halber Alexandriner, dessen mit der ersten Zeile korrespondierender <lb n="p3b_089.028"/> Reim um einen halben Vers näher gerückt wird. Das Ohr erwartet <lb n="p3b_089.029"/> infolge des alexandrinischen Rhythmus das Reimecho schon in der <lb n="p3b_089.030"/> 2. Zeile und wird nun durch die vertagende weibliche Endung derselben <lb n="p3b_089.031"/> auf den sogleich folgenden Reim der 3. Zeile hingelenkt, wie <lb n="p3b_089.032"/> andererseits die Endung der 2. Zeile ihr Echo dadurch um ½ Vers früher <lb n="p3b_089.033"/> bekommt. Die Reime klingen sehr freundlich zusammen. Beispiel:</p> <lb n="p3b_089.034"/> <table> <row> <cell> Wenn ich </cell> <cell> in Angst </cell> <cell> und Not </cell> <cell> mein Au </cell> <cell> ge heb' </cell> <cell> empor </cell> <cell/> </row> <lb n="p3b_089.035"/> <row> <cell> Zu dei </cell> <cell> nen Ber </cell> <cell> gen, Herr, </cell> <cell> mit Seuf </cell> <cell> zen und </cell> <cell> mit Fle </cell> <cell> hen,</cell> </row> <lb n="p3b_089.036"/> <row> <cell> So reichst </cell> <cell> du mir </cell> <cell> dein Ohr, </cell> <cell> </cell> <cell> </cell> <cell> </cell> <cell/> </row> <lb n="p3b_089.037"/> <row> <cell> Daß ich </cell> <cell> nicht darf </cell> <cell> betrübt </cell> <cell> von dei </cell> <cell> nem An </cell> <cell> tlitz ge </cell> <cell> hen.</cell> </row> </table> <p><lb n="p3b_089.038"/> 7. Bei der sechszeiligen Alexandrinerstrophe reimen sich folgende <lb n="p3b_089.039"/> Zeilen: 1─2, 4─5, 3─6 (also Schema: <hi rendition="#aq">a a b c c b</hi>). Jn der Regel <lb n="p3b_089.040"/> hat Vers 1 + 2, sowie 4 + 5 weiblichen, 3 + 6 dagegen männlichen <lb n="p3b_089.041"/> Schluß; doch kann männliches und weibliches Geschlecht auch in umgekehrter <lb n="p3b_089.042"/> Folge wechseln.</p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [89/0115]
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§ 31. Bildung von Alexandrinerstrophen. p3b_089.002
1. Die einfachste Form einer Alexandrinerstrophe ist die Verbindung p3b_089.003
von zwei Alexandrinerversen (vgl. § 6) zu einem Distichon p3b_089.004
durch den Reim.
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2. Die übrigen Formen entstehen aus der Verbindung von mehreren p3b_089.006
Alexandrinerversen, von denen ─ zur Erlangung eines strophischen p3b_089.007
Charakteristikums ─ in der Regel eine Zeile verkürzt wird (zuweilen p3b_089.008
auch deren 2).
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3. Man unterscheidet neunzeilige (Geibelsche Form), sechszeilige p3b_089.010
(Freiligrathsche Form), seltener vierzeilige und fünfzeilige Alexandrinerstrophen.
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4. Jm Französischen finden wir mehrfach vierzeilige Alexandrinerstrophen p3b_089.013
mit gekreuztem Reim (a b a b), sowie (aus 4 + 9 zusammengesetzte) p3b_089.014
dreizehnzeilige, bei denen der Schlußvers ein jambischer Viertakter p3b_089.015
ist. (Vgl. z. B. Lamartine's méditations poétiques.)
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5. Jm Deutschen hat man sich (außer in Übersetzungen) zu p3b_089.017
alexandrinischen Vierzeilen nicht entschließen mögen, wahrscheinlich weil p3b_089.018
gekreuzte Reime (wegen der beträchtlichen Zeilenlänge des Alexandrinerverses p3b_089.019
und der ständigen Diärese im 3. Takte) in architektonischer Beziehung p3b_089.020
mißlich erscheinen mochten. Rückert hat mehrfach 2 Alexandriner= p3b_089.021
Reimpaare (a a b b) verbunden, wobei er meistenteils im Reimgeschlecht p3b_089.022
wechselte.
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6. Eine freundlich gebaute, uralte alexandrinische Vierzeilenform p3b_089.024
mit gekreuzten Reimen danken wir v. Löwenstern († 1648). Die erste p3b_089.025
Alexandrinerzeile dieser Form hat akatalektischen (männlichen), die 2. p3b_089.026
und 4. hyperkatalektischen (weiblichen) Schluß; die 3. Zeile ist nur p3b_089.027
ein halber Alexandriner, dessen mit der ersten Zeile korrespondierender p3b_089.028
Reim um einen halben Vers näher gerückt wird. Das Ohr erwartet p3b_089.029
infolge des alexandrinischen Rhythmus das Reimecho schon in der p3b_089.030
2. Zeile und wird nun durch die vertagende weibliche Endung derselben p3b_089.031
auf den sogleich folgenden Reim der 3. Zeile hingelenkt, wie p3b_089.032
andererseits die Endung der 2. Zeile ihr Echo dadurch um ½ Vers früher p3b_089.033
bekommt. Die Reime klingen sehr freundlich zusammen. Beispiel:
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Wenn ich in Angst und Not mein Au ge heb' empor
Zu dei nen Ber gen, Herr, mit Seuf zen und mit Fle hen,
So reichst du mir dein Ohr,
Daß ich nicht darf betrübt von dei nem An tlitz ge hen.
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7. Bei der sechszeiligen Alexandrinerstrophe reimen sich folgende p3b_089.039
Zeilen: 1─2, 4─5, 3─6 (also Schema: a a b c c b). Jn der Regel p3b_089.040
hat Vers 1 + 2, sowie 4 + 5 weiblichen, 3 + 6 dagegen männlichen p3b_089.041
Schluß; doch kann männliches und weibliches Geschlecht auch in umgekehrter p3b_089.042
Folge wechseln.
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