Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Dritter Band. Stuttgart, 1884.

Bild:
<< vorherige Seite

p3b_038.001
3. Das Distichon bietet schöne Gelegenheit zur eigenen Produktion; p3b_038.002
man braucht nur die Gedanken erst in Prosa zu notieren, um p3b_038.003
ihnen sodann die Distichenform zu verleihen.

p3b_038.004
4. Jch erkläre mich für solche feste Formen, weil schon eine einzige p3b_038.005
Strophe das ganze Gedicht ist. Der Schaffende wird dadurch p3b_038.006
gezwungen, kurz zu sein und nur das Nötige zu sagen. Daher sind p3b_038.007
die antiken und noch mehr die romanischen Formen (wohl auch die p3b_038.008
orientalischen) die beste Schule.

p3b_038.009
Aufgabe 1. Der nachstehende Stoff ist zu einem Distichon zu p3b_038.010
verwenden.

p3b_038.011

An die Erde.

p3b_038.012
Stoff. Gönne, o Erde, dem Baume, gen Himmel empor zu wachsen; p3b_038.013
er wirft dir seine Früchte doch in den Schoß.

p3b_038.014

Lösung. Von Friedrich Hebbel.

p3b_038.015
Gönne dem Baume die Freude, gen Himmel zu wachsen, o Erde: p3b_038.016
Was er an Früchten erzeugt, wirft er dir doch in den Schoß.

p3b_038.017
Aufgabe 2. Nachstehender Stoff soll zu einem Doppeldistichon p3b_038.018
verwendet werden.

p3b_038.019
Stoff. Ohne Ursache sei niemals schüchtern und befangen, alle, mit p3b_038.020
denen du zu thun haben kannst, sind Menschen wie du. Alle haben Thorheiten p3b_038.021
und Schwächen. |

p3b_038.022
Die besseren und die weiseren unter den Menschen hast du ohnehin nicht p3b_038.023
zu fürchten. Sobald du dir vertraust, weißt du nach Goethe's Versicherung p3b_038.024
auch zu leben.

p3b_038.025

Lösung.

p3b_038.026
Nie sei schüchtern, befangen vor anderen außer mit Ursach'. p3b_038.027
Sie sind Menschen wie du, haben Gebrechen wie du. p3b_038.028
Merke: zu scheu'n sind nicht von den Menschen die bessern und weisern;

p3b_038.030
B. Das elegische Gedicht.

p3b_038.031
1. Wenn dasselbe zarten, sanften oder auch wehmütigen Empfindungen p3b_038.032
Ausdruck verleiht, nennt man es elegisches Lied.

p3b_038.033
2. Elegie heißt es, wenn es in gehobenen Gefühlen oder in p3b_038.034
höherem, heroischem, dithyrambischem Geistesflug sich bewegt und reflektierender, p3b_038.035
sinnend verweilender Beschaulichkeit Raum gewährt.

p3b_038.036
3. Bei einem elegischen Gedichte kann ausnahmsweise der Gedanke p3b_038.037
aus einem Distichon in das andere überlaufen.

p3b_038.038
4. Um Stoffe zu elegischen Gedichten zu erhalten, ist das Beispiel p3b_038.039
Schillers belehrend, der mehrere Partien seiner ästhetisch=philo=

p3b_038.001
3. Das Distichon bietet schöne Gelegenheit zur eigenen Produktion; p3b_038.002
man braucht nur die Gedanken erst in Prosa zu notieren, um p3b_038.003
ihnen sodann die Distichenform zu verleihen.

p3b_038.004
4. Jch erkläre mich für solche feste Formen, weil schon eine einzige p3b_038.005
Strophe das ganze Gedicht ist. Der Schaffende wird dadurch p3b_038.006
gezwungen, kurz zu sein und nur das Nötige zu sagen. Daher sind p3b_038.007
die antiken und noch mehr die romanischen Formen (wohl auch die p3b_038.008
orientalischen) die beste Schule.

p3b_038.009
Aufgabe 1. Der nachstehende Stoff ist zu einem Distichon zu p3b_038.010
verwenden.

p3b_038.011

An die Erde.

p3b_038.012
Stoff. Gönne, o Erde, dem Baume, gen Himmel empor zu wachsen; p3b_038.013
er wirft dir seine Früchte doch in den Schoß.

p3b_038.014

Lösung. Von Friedrich Hebbel.

p3b_038.015
Gönne dem Baume die Freude, gen Himmel zu wachsen, o Erde: p3b_038.016
Was er an Früchten erzeugt, wirft er dir doch in den Schoß.

p3b_038.017
Aufgabe 2. Nachstehender Stoff soll zu einem Doppeldistichon p3b_038.018
verwendet werden.

p3b_038.019
Stoff. Ohne Ursache sei niemals schüchtern und befangen, alle, mit p3b_038.020
denen du zu thun haben kannst, sind Menschen wie du. Alle haben Thorheiten p3b_038.021
und Schwächen. │

p3b_038.022
Die besseren und die weiseren unter den Menschen hast du ohnehin nicht p3b_038.023
zu fürchten. Sobald du dir vertraust, weißt du nach Goethe's Versicherung p3b_038.024
auch zu leben.

p3b_038.025

Lösung.

p3b_038.026
Nie sei schüchtern, befangen vor anderen außer mit Ursach'. p3b_038.027
Sie sind Menschen wie du, haben Gebrechen wie du. p3b_038.028
Merke: zu scheu'n sind nicht von den Menschen die bessern und weisern;

p3b_038.030
B. Das elegische Gedicht.

p3b_038.031
1. Wenn dasselbe zarten, sanften oder auch wehmütigen Empfindungen p3b_038.032
Ausdruck verleiht, nennt man es elegisches Lied.

p3b_038.033
2. Elegie heißt es, wenn es in gehobenen Gefühlen oder in p3b_038.034
höherem, heroischem, dithyrambischem Geistesflug sich bewegt und reflektierender, p3b_038.035
sinnend verweilender Beschaulichkeit Raum gewährt.

p3b_038.036
3. Bei einem elegischen Gedichte kann ausnahmsweise der Gedanke p3b_038.037
aus einem Distichon in das andere überlaufen.

p3b_038.038
4. Um Stoffe zu elegischen Gedichten zu erhalten, ist das Beispiel p3b_038.039
Schillers belehrend, der mehrere Partien seiner ästhetisch=philo=

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0064" n="38"/>
            <p><lb n="p3b_038.001"/>
3. Das Distichon bietet schöne Gelegenheit zur eigenen Produktion; <lb n="p3b_038.002"/>
man braucht nur die Gedanken erst in Prosa zu notieren, um <lb n="p3b_038.003"/>
ihnen sodann die Distichenform zu verleihen.</p>
            <p><lb n="p3b_038.004"/>
4. Jch erkläre mich für solche feste Formen, weil schon eine einzige <lb n="p3b_038.005"/>
Strophe das ganze Gedicht ist. Der Schaffende wird dadurch <lb n="p3b_038.006"/>
gezwungen, kurz zu sein und nur das Nötige zu sagen. Daher sind <lb n="p3b_038.007"/>
die antiken und noch mehr die romanischen Formen (wohl auch die <lb n="p3b_038.008"/>
orientalischen) die beste Schule.</p>
            <p><lb n="p3b_038.009"/><hi rendition="#g">Aufgabe</hi> 1. <hi rendition="#g">Der nachstehende Stoff ist zu einem Distichon zu <lb n="p3b_038.010"/>
verwenden.</hi></p>
            <lb n="p3b_038.011"/>
            <p> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#g">An die Erde.</hi> </hi> </p>
            <p><lb n="p3b_038.012"/><hi rendition="#g">Stoff.</hi> Gönne, o Erde, dem Baume, gen Himmel empor zu wachsen; <lb n="p3b_038.013"/>
er wirft dir seine Früchte doch in den Schoß.</p>
            <lb n="p3b_038.014"/>
            <p> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#g">Lösung. Von Friedrich Hebbel.</hi> </hi> </p>
            <lb n="p3b_038.015"/>
            <lg>
              <l>Gönne dem Baume die Freude, gen Himmel zu wachsen, o Erde:</l>
              <lb n="p3b_038.016"/>
              <l>Was er an Früchten erzeugt, wirft er dir doch in den Schoß.</l>
            </lg>
            <p><lb n="p3b_038.017"/><hi rendition="#g">Aufgabe</hi> 2. <hi rendition="#g">Nachstehender Stoff soll zu einem Doppeldistichon <lb n="p3b_038.018"/>
verwendet werden.</hi></p>
            <p><lb n="p3b_038.019"/><hi rendition="#g">Stoff.</hi> Ohne Ursache sei niemals schüchtern und befangen, alle, mit <lb n="p3b_038.020"/>
denen du zu thun haben kannst, sind Menschen wie du. Alle haben Thorheiten <lb n="p3b_038.021"/>
und Schwächen. &#x2502;</p>
            <p><lb n="p3b_038.022"/>
Die besseren und die weiseren unter den Menschen hast du ohnehin nicht <lb n="p3b_038.023"/>
zu fürchten. Sobald du dir vertraust, weißt du nach Goethe's Versicherung <lb n="p3b_038.024"/>
auch zu leben.</p>
            <lb n="p3b_038.025"/>
            <p> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#g">Lösung.</hi> </hi> </p>
            <lb n="p3b_038.026"/>
            <lg>
              <l>Nie sei schüchtern, befangen vor anderen außer mit Ursach'.</l>
              <lb n="p3b_038.027"/>
              <l> Sie sind Menschen wie du, haben Gebrechen wie du.</l>
              <lb n="p3b_038.028"/>
              <l>Merke: zu scheu'n sind nicht von den Menschen die bessern und weisern;</l>
            </lg>
            <p>
              <lb n="p3b_038.030"/> <hi rendition="#et"><hi rendition="#aq">B</hi>. Das elegische Gedicht.</hi> </p>
            <p><lb n="p3b_038.031"/>
1. Wenn dasselbe zarten, sanften oder auch wehmütigen Empfindungen <lb n="p3b_038.032"/>
Ausdruck verleiht, nennt man es <hi rendition="#g">elegisches Lied</hi>.</p>
            <p><lb n="p3b_038.033"/>
2. <hi rendition="#g">Elegie</hi> heißt es, wenn es in gehobenen Gefühlen oder in <lb n="p3b_038.034"/>
höherem, heroischem, dithyrambischem Geistesflug sich bewegt und reflektierender, <lb n="p3b_038.035"/>
sinnend verweilender Beschaulichkeit Raum gewährt.</p>
            <p><lb n="p3b_038.036"/>
3. Bei einem elegischen Gedichte kann <hi rendition="#g">ausnahmsweise</hi> der Gedanke <lb n="p3b_038.037"/>
aus einem Distichon in das andere überlaufen.</p>
            <p><lb n="p3b_038.038"/>
4. Um Stoffe zu elegischen Gedichten zu erhalten, ist das Beispiel <lb n="p3b_038.039"/>
Schillers belehrend, der mehrere Partien seiner ästhetisch=philo=
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[38/0064] p3b_038.001 3. Das Distichon bietet schöne Gelegenheit zur eigenen Produktion; p3b_038.002 man braucht nur die Gedanken erst in Prosa zu notieren, um p3b_038.003 ihnen sodann die Distichenform zu verleihen. p3b_038.004 4. Jch erkläre mich für solche feste Formen, weil schon eine einzige p3b_038.005 Strophe das ganze Gedicht ist. Der Schaffende wird dadurch p3b_038.006 gezwungen, kurz zu sein und nur das Nötige zu sagen. Daher sind p3b_038.007 die antiken und noch mehr die romanischen Formen (wohl auch die p3b_038.008 orientalischen) die beste Schule. p3b_038.009 Aufgabe 1. Der nachstehende Stoff ist zu einem Distichon zu p3b_038.010 verwenden. p3b_038.011 An die Erde. p3b_038.012 Stoff. Gönne, o Erde, dem Baume, gen Himmel empor zu wachsen; p3b_038.013 er wirft dir seine Früchte doch in den Schoß. p3b_038.014 Lösung. Von Friedrich Hebbel. p3b_038.015 Gönne dem Baume die Freude, gen Himmel zu wachsen, o Erde: p3b_038.016 Was er an Früchten erzeugt, wirft er dir doch in den Schoß. p3b_038.017 Aufgabe 2. Nachstehender Stoff soll zu einem Doppeldistichon p3b_038.018 verwendet werden. p3b_038.019 Stoff. Ohne Ursache sei niemals schüchtern und befangen, alle, mit p3b_038.020 denen du zu thun haben kannst, sind Menschen wie du. Alle haben Thorheiten p3b_038.021 und Schwächen. │ p3b_038.022 Die besseren und die weiseren unter den Menschen hast du ohnehin nicht p3b_038.023 zu fürchten. Sobald du dir vertraust, weißt du nach Goethe's Versicherung p3b_038.024 auch zu leben. p3b_038.025 Lösung. p3b_038.026 Nie sei schüchtern, befangen vor anderen außer mit Ursach'. p3b_038.027 Sie sind Menschen wie du, haben Gebrechen wie du. p3b_038.028 Merke: zu scheu'n sind nicht von den Menschen die bessern und weisern; p3b_038.030 B. Das elegische Gedicht. p3b_038.031 1. Wenn dasselbe zarten, sanften oder auch wehmütigen Empfindungen p3b_038.032 Ausdruck verleiht, nennt man es elegisches Lied. p3b_038.033 2. Elegie heißt es, wenn es in gehobenen Gefühlen oder in p3b_038.034 höherem, heroischem, dithyrambischem Geistesflug sich bewegt und reflektierender, p3b_038.035 sinnend verweilender Beschaulichkeit Raum gewährt. p3b_038.036 3. Bei einem elegischen Gedichte kann ausnahmsweise der Gedanke p3b_038.037 aus einem Distichon in das andere überlaufen. p3b_038.038 4. Um Stoffe zu elegischen Gedichten zu erhalten, ist das Beispiel p3b_038.039 Schillers belehrend, der mehrere Partien seiner ästhetisch=philo=

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik03_1884
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik03_1884/64
Zitationshilfe: Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Dritter Band. Stuttgart, 1884, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beyer_poetik03_1884/64>, abgerufen am 28.11.2024.