Mittelpunkt alles Empfindens geht, auf das Ge¬ schlecht. Nur eine Geschlechtskunst ist echt, ist Instinkt, ist Genuß, ist Leben, ist Volkskunst. Eine ejakulative Kunst, orgastisch, brünstig. Ein Hinein¬ knieen in die Uraccorde der Animalität, aber in allen Finessen raffiniert, differenziert bis in die äußersten Nervenenden. (Er schien seinen Schnurrbart ver¬ schlucken zu wollen, so verzückt bearbeitete er ihn mit seiner Zunge.) Dabei aber verwegen bunt, jagend, peitschenknallend, fieberisch! Tanzmelodien und Hengstwiehern. Corsettkrachen und die Melancholie des Leierkastens. Blechmusik und das Rauschen von seidenen Unterröcken. Pubertätswimmern und das Schollern von Eisplatten in breiten, wäl¬ zenden Strömen. Einen Titel dafür weiß ich nicht. Das Unsagbare kann man wohl stammeln, aber nicht benennen.
-- Hehe, so sagen Sie doch: Der Stammler, werter Herr, oder: Stimmwechsel. Das sind aus¬ gezeichnete Titel. Hehe, oder: Der Hengst des Volkes. Das ist noch entzöckender! Oder: Der rote Faden! Oder: Das Nadelör der Welt. Hehe! Ausgezeichnete Titel!
Der Pole schien sich ein bischen zu ärgern.
Der Zungenschnalzer lächelte verbindlich:
Stilpe.
Mittelpunkt alles Empfindens geht, auf das Ge¬ ſchlecht. Nur eine Geſchlechtskunſt iſt echt, iſt Inſtinkt, iſt Genuß, iſt Leben, iſt Volkskunſt. Eine ejakulative Kunſt, orgaſtiſch, brünſtig. Ein Hinein¬ knieen in die Uraccorde der Animalität, aber in allen Fineſſen raffiniert, differenziert bis in die äußerſten Nervenenden. (Er ſchien ſeinen Schnurrbart ver¬ ſchlucken zu wollen, ſo verzückt bearbeitete er ihn mit ſeiner Zunge.) Dabei aber verwegen bunt, jagend, peitſchenknallend, fieberiſch! Tanzmelodien und Hengſtwiehern. Corſettkrachen und die Melancholie des Leierkaſtens. Blechmuſik und das Rauſchen von ſeidenen Unterröcken. Pubertätswimmern und das Schollern von Eisplatten in breiten, wäl¬ zenden Strömen. Einen Titel dafür weiß ich nicht. Das Unſagbare kann man wohl ſtammeln, aber nicht benennen.
— Hehe, ſo ſagen Sie doch: Der Stammler, werter Herr, oder: Stimmwechſel. Das ſind aus¬ gezeichnete Titel. Hehe, oder: Der Hengſt des Volkes. Das iſt noch entzöckender! Oder: Der rote Faden! Oder: Das Nadelör der Welt. Hehe! Ausgezeichnete Titel!
Der Pole ſchien ſich ein bischen zu ärgern.
Der Zungenſchnalzer lächelte verbindlich:
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0358"n="344"/><fwplace="top"type="header">Stilpe.<lb/></fw> Mittelpunkt alles Empfindens geht, auf das Ge¬<lb/>ſchlecht. Nur eine Geſchlechtskunſt iſt echt, iſt<lb/>
Inſtinkt, iſt Genuß, iſt Leben, iſt Volkskunſt. Eine<lb/>
ejakulative Kunſt, orgaſtiſch, brünſtig. Ein Hinein¬<lb/>
knieen in die Uraccorde der Animalität, aber in allen<lb/>
Fineſſen raffiniert, differenziert bis in die äußerſten<lb/>
Nervenenden. (Er ſchien ſeinen Schnurrbart ver¬<lb/>ſchlucken zu wollen, ſo verzückt bearbeitete er ihn mit<lb/>ſeiner Zunge.) Dabei aber verwegen bunt, jagend,<lb/>
peitſchenknallend, fieberiſch! Tanzmelodien und<lb/>
Hengſtwiehern. Corſettkrachen und die Melancholie<lb/>
des Leierkaſtens. Blechmuſik und das Rauſchen<lb/>
von ſeidenen Unterröcken. Pubertätswimmern und<lb/>
das Schollern von Eisplatten in breiten, wäl¬<lb/>
zenden Strömen. Einen Titel dafür weiß ich<lb/>
nicht. Das Unſagbare kann man wohl ſtammeln,<lb/>
aber nicht benennen.</p><lb/><p>— Hehe, ſo ſagen Sie doch: Der Stammler,<lb/>
werter Herr, oder: Stimmwechſel. Das ſind aus¬<lb/>
gezeichnete Titel. Hehe, oder: Der Hengſt des<lb/>
Volkes. Das iſt <hirendition="#g">noch</hi> entzöckender! Oder: Der<lb/>
rote Faden! Oder: Das Nadelör der Welt. Hehe!<lb/>
Ausgezeichnete Titel!</p><lb/><p>Der Pole ſchien ſich ein bischen zu ärgern.</p><lb/><p>Der Zungenſchnalzer lächelte verbindlich:<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[344/0358]
Stilpe.
Mittelpunkt alles Empfindens geht, auf das Ge¬
ſchlecht. Nur eine Geſchlechtskunſt iſt echt, iſt
Inſtinkt, iſt Genuß, iſt Leben, iſt Volkskunſt. Eine
ejakulative Kunſt, orgaſtiſch, brünſtig. Ein Hinein¬
knieen in die Uraccorde der Animalität, aber in allen
Fineſſen raffiniert, differenziert bis in die äußerſten
Nervenenden. (Er ſchien ſeinen Schnurrbart ver¬
ſchlucken zu wollen, ſo verzückt bearbeitete er ihn mit
ſeiner Zunge.) Dabei aber verwegen bunt, jagend,
peitſchenknallend, fieberiſch! Tanzmelodien und
Hengſtwiehern. Corſettkrachen und die Melancholie
des Leierkaſtens. Blechmuſik und das Rauſchen
von ſeidenen Unterröcken. Pubertätswimmern und
das Schollern von Eisplatten in breiten, wäl¬
zenden Strömen. Einen Titel dafür weiß ich
nicht. Das Unſagbare kann man wohl ſtammeln,
aber nicht benennen.
— Hehe, ſo ſagen Sie doch: Der Stammler,
werter Herr, oder: Stimmwechſel. Das ſind aus¬
gezeichnete Titel. Hehe, oder: Der Hengſt des
Volkes. Das iſt noch entzöckender! Oder: Der
rote Faden! Oder: Das Nadelör der Welt. Hehe!
Ausgezeichnete Titel!
Der Pole ſchien ſich ein bischen zu ärgern.
Der Zungenſchnalzer lächelte verbindlich:
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Bierbaum, Otto Julius: Stilpe. Ein Roman aus der Froschperspektive. Berlin, 1897, S. 344. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bierbaum_stilpe_1897/358>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.