Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Binder, Sidonie: Zum Wiesbadener Ärztetag. In: Die Frau 12 (1898). S. 705–712.

Bild:
<< vorherige Seite
letzte Seite

Zum Wiesbadener Ärztetag.
fähigkeit unsrer zur Mutterschaft berufenen Frauen aufs schwerste geschädigt, zum Teil
für immer zerstört wird.

Die Frau hat ferner Kenntnis genommen von dem Streit im ärztlichen Lager
über die Anlegung der Geburtszange. Es ist ihr bekannt geworden, welch schwere
und dauernde Gefährdung für Leib und Leben ihr aus sogenannten Luxusoperationen
in der Geburtshilfe erwachsen kann, und leider vielfach auch erwächst. Sie weiß
z.B., daß unter den Gründen für eine Erhöhung einzelner Taxgebühren in einer
medizinischen Gesellschaft zu Berlin folgender angeführt wurde: "Die in der neuen
Taxe festgesetzte geringe Gebühr für die ärztliche Hilfeleistung bei der natürlichen Ent-
bindung muß der schon jetzt vielfach beklagten zu großen Häufigkeit der Zangenan-
legung weiteren Vorschub leisten." Jst es ein Wunder, wenn angesichts solcher Zustände
und Erörterungen die Frau an diesen Stellen nicht länger rechtlos sein, wenn sie
durch ihre eigenen Sachverständigen hier Sitz und Stimme haben will im Rat?

Und noch auf einem andern Gebiet, wo sie allmählich die Augen öffnet, begehrt
sie ihrer: auf dem Gebiet der öffentlichen Sittlichkeit. Sie beginnt die jammervolle
Rolle zu begreifen, die ihrem Geschlecht hier zugefallen ist; sie kennt nunmehr die
volksmörderischen Zustände im Bereich der staatlich reglementierten Prostitution. Sie
weiß, daß unter der ausschließlichen Herrschaft und Verantwortung der Männer die
Dinge sich so fürchterlich gestaltet haben und ist überzeugt, daß ohne ihr, der deutschen
Frau, ausgedehntes Mitwissen und Mithelfen auf eine wirkliche Besserung hier
nimmermehr zu hoffen ist. -

Die Verhandlungen des 26. deutschen Ärztetages machen fast den Eindruck, als
ob man dort der Ansicht gewesen wäre, die Frauen seien selbst nicht ganz im klaren
über die Tragweite ihrer eigenen Forderungen. Glaubt man denn wirklich, wir setzten
soviel Energie an ein Phantom? Wir stellten uns so, hundertmal geschlagen, auch
zum hundertunderstenmal wieder in Gefechtsordnung für eine Sache, deren welt-
geschichtliches Recht nicht in seinem ganzen Umfang von uns erkannt worden wäre?
Glaubt man, wir wagten das Köstlichste, was wir besitzen, unsre Mädchenjugend,
unbedachtsam an einen Kampf, der als ein unerquicklicher und schwerer noch lange
nicht zur Ruhe kommen wird?

Sicher nicht. Wir wußten, was wir thaten, als wir ihn begannen und sind
fest entschlossen, ihn zu Ende zu führen. Der ganze denkfähige und wohldenkende Teil
der deutschen Frauenwelt, der heute für sein Geschlecht und Volk Heilbringendes von
ihnen erwartet, wird einmal hinter unsern jungen ärztlichen Pionieren stehen und sie
nach Kräften halten, fördern und beschützen.

[Abbildung]

Zum Wiesbadener Ärztetag.
fähigkeit unsrer zur Mutterschaft berufenen Frauen aufs schwerste geschädigt, zum Teil
für immer zerstört wird.

Die Frau hat ferner Kenntnis genommen von dem Streit im ärztlichen Lager
über die Anlegung der Geburtszange. Es ist ihr bekannt geworden, welch schwere
und dauernde Gefährdung für Leib und Leben ihr aus sogenannten Luxusoperationen
in der Geburtshilfe erwachsen kann, und leider vielfach auch erwächst. Sie weiß
z.B., daß unter den Gründen für eine Erhöhung einzelner Taxgebühren in einer
medizinischen Gesellschaft zu Berlin folgender angeführt wurde: „Die in der neuen
Taxe festgesetzte geringe Gebühr für die ärztliche Hilfeleistung bei der natürlichen Ent-
bindung muß der schon jetzt vielfach beklagten zu großen Häufigkeit der Zangenan-
legung weiteren Vorschub leisten.“ Jst es ein Wunder, wenn angesichts solcher Zustände
und Erörterungen die Frau an diesen Stellen nicht länger rechtlos sein, wenn sie
durch ihre eigenen Sachverständigen hier Sitz und Stimme haben will im Rat?

Und noch auf einem andern Gebiet, wo sie allmählich die Augen öffnet, begehrt
sie ihrer: auf dem Gebiet der öffentlichen Sittlichkeit. Sie beginnt die jammervolle
Rolle zu begreifen, die ihrem Geschlecht hier zugefallen ist; sie kennt nunmehr die
volksmörderischen Zustände im Bereich der staatlich reglementierten Prostitution. Sie
weiß, daß unter der ausschließlichen Herrschaft und Verantwortung der Männer die
Dinge sich so fürchterlich gestaltet haben und ist überzeugt, daß ohne ihr, der deutschen
Frau, ausgedehntes Mitwissen und Mithelfen auf eine wirkliche Besserung hier
nimmermehr zu hoffen ist. –

Die Verhandlungen des 26. deutschen Ärztetages machen fast den Eindruck, als
ob man dort der Ansicht gewesen wäre, die Frauen seien selbst nicht ganz im klaren
über die Tragweite ihrer eigenen Forderungen. Glaubt man denn wirklich, wir setzten
soviel Energie an ein Phantom? Wir stellten uns so, hundertmal geschlagen, auch
zum hundertunderstenmal wieder in Gefechtsordnung für eine Sache, deren welt-
geschichtliches Recht nicht in seinem ganzen Umfang von uns erkannt worden wäre?
Glaubt man, wir wagten das Köstlichste, was wir besitzen, unsre Mädchenjugend,
unbedachtsam an einen Kampf, der als ein unerquicklicher und schwerer noch lange
nicht zur Ruhe kommen wird?

Sicher nicht. Wir wußten, was wir thaten, als wir ihn begannen und sind
fest entschlossen, ihn zu Ende zu führen. Der ganze denkfähige und wohldenkende Teil
der deutschen Frauenwelt, der heute für sein Geschlecht und Volk Heilbringendes von
ihnen erwartet, wird einmal hinter unsern jungen ärztlichen Pionieren stehen und sie
nach Kräften halten, fördern und beschützen.

[Abbildung]
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div>
          <p><pb facs="#f0008" n="712"/><fw place="top" type="header">Zum Wiesbadener Ärztetag.</fw><lb/>
fähigkeit                         unsrer zur Mutterschaft berufenen Frauen aufs schwerste geschädigt, zum                         Teil<lb/>
für immer zerstört wird.</p><lb/>
          <p>Die Frau hat ferner Kenntnis genommen von dem Streit im ärztlichen Lager<lb/>
über die Anlegung der Geburtszange. Es ist ihr bekannt geworden, welch                         schwere<lb/>
und dauernde Gefährdung für Leib und Leben ihr aus sogenannten                         Luxusoperationen<lb/>
in der Geburtshilfe erwachsen kann, und leider                         vielfach auch erwächst. Sie weiß<lb/>
z.B., daß unter den Gründen für eine                         Erhöhung einzelner Taxgebühren in einer<lb/>
medizinischen Gesellschaft zu                         Berlin folgender angeführt wurde: &#x201E;Die in der neuen<lb/>
Taxe                         festgesetzte geringe Gebühr für die ärztliche Hilfeleistung bei der                         natürlichen Ent-<lb/>
bindung muß der schon jetzt vielfach beklagten zu                         großen Häufigkeit der Zangenan-<lb/>
legung weiteren Vorschub                         leisten.&#x201C; Jst es ein Wunder, wenn angesichts solcher Zustände<lb/>
und Erörterungen die Frau an diesen Stellen nicht länger rechtlos sein, wenn                         sie<lb/>
durch ihre eigenen Sachverständigen hier Sitz und Stimme haben will                         im Rat?</p><lb/>
          <p>Und noch auf einem andern Gebiet, wo sie allmählich die Augen öffnet,                         begehrt<lb/>
sie ihrer: auf dem Gebiet der öffentlichen Sittlichkeit. Sie                         beginnt die jammervolle<lb/>
Rolle zu begreifen, die ihrem Geschlecht hier                         zugefallen ist; sie kennt nunmehr die<lb/>
volksmörderischen Zustände im                         Bereich der staatlich reglementierten Prostitution. Sie<lb/>
weiß, daß unter                         der ausschließlichen Herrschaft und Verantwortung der Männer die<lb/>
Dinge                         sich so fürchterlich gestaltet haben und ist überzeugt, daß ohne ihr, der                         deutschen<lb/>
Frau, ausgedehntes Mitwissen und Mithelfen auf eine wirkliche                         Besserung hier<lb/>
nimmermehr zu hoffen ist. &#x2013; </p><lb/>
          <p>Die Verhandlungen des 26. deutschen Ärztetages machen fast den Eindruck,                         als<lb/>
ob man dort der Ansicht gewesen wäre, die Frauen seien selbst nicht                         ganz im klaren<lb/>
über die Tragweite ihrer eigenen Forderungen. Glaubt man                         denn wirklich, wir setzten<lb/>
soviel Energie an ein Phantom? Wir stellten                         uns so, hundertmal geschlagen, auch<lb/>
zum hundertunderstenmal wieder in                         Gefechtsordnung für eine Sache, deren welt-<lb/>
geschichtliches Recht nicht                         in seinem ganzen Umfang von uns erkannt worden wäre?<lb/>
Glaubt man, wir                         wagten das Köstlichste, was wir besitzen, unsre Mädchenjugend,<lb/>
unbedachtsam an einen Kampf, der als ein unerquicklicher und schwerer noch                         lange<lb/>
nicht zur Ruhe kommen wird?</p><lb/>
          <p>Sicher nicht. Wir wußten, was wir thaten, als wir ihn begannen und sind<lb/>
fest entschlossen, ihn zu Ende zu führen. Der ganze denkfähige und                         wohldenkende Teil<lb/>
der deutschen Frauenwelt, der heute für sein                         Geschlecht und Volk Heilbringendes von<lb/>
ihnen erwartet, wird einmal                         hinter unsern jungen ärztlichen Pionieren stehen und sie<lb/>
nach Kräften                         halten, fördern und beschützen.</p><lb/>
          <figure/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[712/0008] Zum Wiesbadener Ärztetag. fähigkeit unsrer zur Mutterschaft berufenen Frauen aufs schwerste geschädigt, zum Teil für immer zerstört wird. Die Frau hat ferner Kenntnis genommen von dem Streit im ärztlichen Lager über die Anlegung der Geburtszange. Es ist ihr bekannt geworden, welch schwere und dauernde Gefährdung für Leib und Leben ihr aus sogenannten Luxusoperationen in der Geburtshilfe erwachsen kann, und leider vielfach auch erwächst. Sie weiß z.B., daß unter den Gründen für eine Erhöhung einzelner Taxgebühren in einer medizinischen Gesellschaft zu Berlin folgender angeführt wurde: „Die in der neuen Taxe festgesetzte geringe Gebühr für die ärztliche Hilfeleistung bei der natürlichen Ent- bindung muß der schon jetzt vielfach beklagten zu großen Häufigkeit der Zangenan- legung weiteren Vorschub leisten.“ Jst es ein Wunder, wenn angesichts solcher Zustände und Erörterungen die Frau an diesen Stellen nicht länger rechtlos sein, wenn sie durch ihre eigenen Sachverständigen hier Sitz und Stimme haben will im Rat? Und noch auf einem andern Gebiet, wo sie allmählich die Augen öffnet, begehrt sie ihrer: auf dem Gebiet der öffentlichen Sittlichkeit. Sie beginnt die jammervolle Rolle zu begreifen, die ihrem Geschlecht hier zugefallen ist; sie kennt nunmehr die volksmörderischen Zustände im Bereich der staatlich reglementierten Prostitution. Sie weiß, daß unter der ausschließlichen Herrschaft und Verantwortung der Männer die Dinge sich so fürchterlich gestaltet haben und ist überzeugt, daß ohne ihr, der deutschen Frau, ausgedehntes Mitwissen und Mithelfen auf eine wirkliche Besserung hier nimmermehr zu hoffen ist. – Die Verhandlungen des 26. deutschen Ärztetages machen fast den Eindruck, als ob man dort der Ansicht gewesen wäre, die Frauen seien selbst nicht ganz im klaren über die Tragweite ihrer eigenen Forderungen. Glaubt man denn wirklich, wir setzten soviel Energie an ein Phantom? Wir stellten uns so, hundertmal geschlagen, auch zum hundertunderstenmal wieder in Gefechtsordnung für eine Sache, deren welt- geschichtliches Recht nicht in seinem ganzen Umfang von uns erkannt worden wäre? Glaubt man, wir wagten das Köstlichste, was wir besitzen, unsre Mädchenjugend, unbedachtsam an einen Kampf, der als ein unerquicklicher und schwerer noch lange nicht zur Ruhe kommen wird? Sicher nicht. Wir wußten, was wir thaten, als wir ihn begannen und sind fest entschlossen, ihn zu Ende zu führen. Der ganze denkfähige und wohldenkende Teil der deutschen Frauenwelt, der heute für sein Geschlecht und Volk Heilbringendes von ihnen erwartet, wird einmal hinter unsern jungen ärztlichen Pionieren stehen und sie nach Kräften halten, fördern und beschützen. [Abbildung]

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Frauenstudium, betreut von Andreas Neumann und Anna Pfundt, FSU Jena und JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2021-12-09T11:34:18Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt, Dennis Dietrich: Bearbeitung der digitalen Edition. (2021-12-09T11:34:18Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; Kolumnentitel: gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/binder_aerztetag_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/binder_aerztetag_1898/8
Zitationshilfe: Binder, Sidonie: Zum Wiesbadener Ärztetag. In: Die Frau 12 (1898). S. 705–712, S. 712. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/binder_aerztetag_1898/8>, abgerufen am 21.11.2024.