Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.Achtes Kapitel: Besuch in Paris. würde es hinreichen, meine Ansicht zu erschüttern. Aber der Bona¬partismus unterscheidet sich dadurch von der Republik, daß er nicht das Bedürfniß hat, seine Regirungsgrundsätze gewaltsam zu propa¬ giren. Selbst der erste Napoleon hat den Ländern, welche nicht direct oder indirect zu Frankreich geschlagen wurden, seine Re¬ girungsform nicht aufzudrängen versucht; man ahmte sie im Wett¬ eifer freiwillig nach. Fremde Staaten mit Hülfe der Revolution zu bedrohn, ist heut zu Tage seit einer ziemlichen Reihe von Jahren das Gewerbe Englands, und wenn Louis Napoleon so gewollt hätte wie Palmerston, so würden wir in Neapel schon vor Jahr und Tag einen Ausbruch erlebt haben. Der französische Kaiser würde durch Ausbreitung revolutionärer Institutionen bei seinen Nachbarn Gefahren für sich selbst schaffen; er wird vielmehr, im Interesse der Erhaltung seiner Herrschaft und Dynastie, und bei seiner Ueberzeugung von der Fehlerhaftigkeit der heutigen Institu¬ tionen Frankreichs für sich selbst festere Grundlagen als die der Revolution zu gewinnen suchen. Ob er das kann, ist freilich eine andre Frage, aber er ist keineswegs blind für die Mangelhaftigkeit und die Gefahren des bonapartischen Regirungssystems, denn er spricht sich selbst darüber aus und beklagt sie. Die jetzige Re¬ girungsform ist für Frankreich nichts Willkürliches, was Louis Napo¬ leon einrichten oder ändern könnte; sie war für ihn ein Gegebenes und ist wahrscheinlich die einzige Methode, nach der Frankreich auf lange Zeit hin regirt werden kann; für alles andre fehlt die Grund¬ lage entweder von Hause aus im National-Charakter, oder sie ist zerschlagen und verloren gegangen; und wenn Heinrich V. jetzt auf den Thron gelangte, er würde, wenn überhaupt, auch nicht anders regiren können. Louis Napoleon hat die revolutionären Zustände des Landes nicht geschaffen, die Herrschaft auch nicht in Auflehnung gegen eine rechtmäßig bestehende Autorität gewonnen, sondern sie als herrenloses Gut aus dem Strudel der Anarchie herausgefischt. Wenn er sie jetzt niederlegen wollte, so würde er Europa in Verlegenheit setzen, und man würde ihn ziemlich ein¬ Achtes Kapitel: Beſuch in Paris. würde es hinreichen, meine Anſicht zu erſchüttern. Aber der Bona¬partismus unterſcheidet ſich dadurch von der Republik, daß er nicht das Bedürfniß hat, ſeine Regirungsgrundſätze gewaltſam zu propa¬ giren. Selbſt der erſte Napoleon hat den Ländern, welche nicht direct oder indirect zu Frankreich geſchlagen wurden, ſeine Re¬ girungsform nicht aufzudrängen verſucht; man ahmte ſie im Wett¬ eifer freiwillig nach. Fremde Staaten mit Hülfe der Revolution zu bedrohn, iſt heut zu Tage ſeit einer ziemlichen Reihe von Jahren das Gewerbe Englands, und wenn Louis Napoleon ſo gewollt hätte wie Palmerſton, ſo würden wir in Neapel ſchon vor Jahr und Tag einen Ausbruch erlebt haben. Der franzöſiſche Kaiſer würde durch Ausbreitung revolutionärer Inſtitutionen bei ſeinen Nachbarn Gefahren für ſich ſelbſt ſchaffen; er wird vielmehr, im Intereſſe der Erhaltung ſeiner Herrſchaft und Dynaſtie, und bei ſeiner Ueberzeugung von der Fehlerhaftigkeit der heutigen Inſtitu¬ tionen Frankreichs für ſich ſelbſt feſtere Grundlagen als die der Revolution zu gewinnen ſuchen. Ob er das kann, iſt freilich eine andre Frage, aber er iſt keineswegs blind für die Mangelhaftigkeit und die Gefahren des bonapartiſchen Regirungsſyſtems, denn er ſpricht ſich ſelbſt darüber aus und beklagt ſie. Die jetzige Re¬ girungsform iſt für Frankreich nichts Willkürliches, was Louis Napo¬ leon einrichten oder ändern könnte; ſie war für ihn ein Gegebenes und iſt wahrſcheinlich die einzige Methode, nach der Frankreich auf lange Zeit hin regirt werden kann; für alles andre fehlt die Grund¬ lage entweder von Hauſe aus im National-Charakter, oder ſie iſt zerſchlagen und verloren gegangen; und wenn Heinrich V. jetzt auf den Thron gelangte, er würde, wenn überhaupt, auch nicht anders regiren können. Louis Napoleon hat die revolutionären Zuſtände des Landes nicht geſchaffen, die Herrſchaft auch nicht in Auflehnung gegen eine rechtmäßig beſtehende Autorität gewonnen, ſondern ſie als herrenloſes Gut aus dem Strudel der Anarchie herausgefiſcht. Wenn er ſie jetzt niederlegen wollte, ſo würde er Europa in Verlegenheit ſetzen, und man würde ihn ziemlich ein¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0207" n="180"/><fw place="top" type="header">Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.<lb/></fw> würde es hinreichen, meine Anſicht zu erſchüttern. Aber der Bona¬<lb/> partismus unterſcheidet ſich dadurch von der Republik, daß er <hi rendition="#g">nicht</hi><lb/> das Bedürfniß hat, ſeine Regirungsgrundſätze gewaltſam zu propa¬<lb/> giren. Selbſt der erſte Napoleon hat den Ländern, welche nicht<lb/> direct oder indirect zu Frankreich geſchlagen wurden, ſeine Re¬<lb/> girungsform nicht aufzudrängen verſucht; man ahmte ſie im Wett¬<lb/> eifer freiwillig nach. 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Achtes Kapitel: Beſuch in Paris.
würde es hinreichen, meine Anſicht zu erſchüttern. Aber der Bona¬
partismus unterſcheidet ſich dadurch von der Republik, daß er nicht
das Bedürfniß hat, ſeine Regirungsgrundſätze gewaltſam zu propa¬
giren. Selbſt der erſte Napoleon hat den Ländern, welche nicht
direct oder indirect zu Frankreich geſchlagen wurden, ſeine Re¬
girungsform nicht aufzudrängen verſucht; man ahmte ſie im Wett¬
eifer freiwillig nach. Fremde Staaten mit Hülfe der Revolution
zu bedrohn, iſt heut zu Tage ſeit einer ziemlichen Reihe von Jahren
das Gewerbe Englands, und wenn Louis Napoleon ſo gewollt
hätte wie Palmerſton, ſo würden wir in Neapel ſchon vor Jahr
und Tag einen Ausbruch erlebt haben. Der franzöſiſche Kaiſer
würde durch Ausbreitung revolutionärer Inſtitutionen bei ſeinen
Nachbarn Gefahren für ſich ſelbſt ſchaffen; er wird vielmehr, im
Intereſſe der Erhaltung ſeiner Herrſchaft und Dynaſtie, und bei
ſeiner Ueberzeugung von der Fehlerhaftigkeit der heutigen Inſtitu¬
tionen Frankreichs für ſich ſelbſt feſtere Grundlagen als die der
Revolution zu gewinnen ſuchen. Ob er das kann, iſt freilich eine
andre Frage, aber er iſt keineswegs blind für die Mangelhaftigkeit
und die Gefahren des bonapartiſchen Regirungsſyſtems, denn er
ſpricht ſich ſelbſt darüber aus und beklagt ſie. Die jetzige Re¬
girungsform iſt für Frankreich nichts Willkürliches, was Louis Napo¬
leon einrichten oder ändern könnte; ſie war für ihn ein Gegebenes
und iſt wahrſcheinlich die einzige Methode, nach der Frankreich auf
lange Zeit hin regirt werden kann; für alles andre fehlt die Grund¬
lage entweder von Hauſe aus im National-Charakter, oder ſie iſt
zerſchlagen und verloren gegangen; und wenn Heinrich V. jetzt
auf den Thron gelangte, er würde, wenn überhaupt, auch nicht
anders regiren können. Louis Napoleon hat die revolutionären
Zuſtände des Landes nicht geſchaffen, die Herrſchaft auch nicht in
Auflehnung gegen eine rechtmäßig beſtehende Autorität gewonnen,
ſondern ſie als herrenloſes Gut aus dem Strudel der Anarchie
herausgefiſcht. Wenn er ſie jetzt niederlegen wollte, ſo würde er
Europa in Verlegenheit ſetzen, und man würde ihn ziemlich ein¬
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