Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.Petersburger Straßenleben. Gesellschaftlicher Ton. in guten Manieren und gesellschaftlichem Tone die jüngere zeit¬genössische Generation zurück stand gegen die vorhergehende des Kaisers Nicolaus und beide wieder in europäischer Bildung und Gesammterziehung gegen die alten Herrn aus der Zeit Alexanders I. Dessenungeachtet blieb innerhalb der Hofkreise und der "Gesellschaft" der vollendete gute Ton in Geltung und in den Häusern der Ari¬ stokratie, namentlich so weit in diesen die Herrschaft der Damen reichte. Aber die Höflichkeit der Formen verminderte sich erheblich, wenn man mit jüngern Herrn in Situationen gerieth, welche nicht durch den Einfluß des Hofes oder vornehmer Frauen controllirt waren. Ich will nicht entscheiden, wie weit das Wahrgenommne aus einer socialen Reaction der jüngern Gesellschaftsschicht gegen die früher wirksam gewesenen deutschen Einflüsse oder aus einem Sinken der Erziehung in der jüngern russischen Gesellschaft seit der Epoche des Kaisers Alexander I. zu erklären ist, vielleicht auch aus der Contagion, welche die sociale Entwicklung der Pariser Kreise auf die der höhern russischen Gesellschaft auszuüben pflegt. Gute Manieren und vollkommne Höflichkeit sind in den herrschenden Kreisen von Frankreich außerhalb des Faubourg St. Germain heut nicht mehr so verbreitet, wie es früher der Fall war, und wie ich sie in Berührung mit ältern Franzosen und mit französischen und noch gewinnender bei russischen Damen jeden Alters kennen gelernt habe. Da übrigens meine Stellung in Petersburg mich nicht zu einem intimen Verkehr mit der jüngsten erwachsenen Generation nöthigte, so habe ich von meinem dortigen Aufenthalt nur die an¬ genehme Erinnerung behalten, welche ich der Liebenswürdigkeit des Hofes, der ältern Herrn und der Damen der Gesellschaft verdanke. Die antideutsche Stimmung der jüngern Generation hat sich Petersburger Straßenleben. Geſellſchaftlicher Ton. in guten Manieren und geſellſchaftlichem Tone die jüngere zeit¬genöſſiſche Generation zurück ſtand gegen die vorhergehende des Kaiſers Nicolaus und beide wieder in europäiſcher Bildung und Geſammterziehung gegen die alten Herrn aus der Zeit Alexanders I. Deſſenungeachtet blieb innerhalb der Hofkreiſe und der „Geſellſchaft“ der vollendete gute Ton in Geltung und in den Häuſern der Ari¬ ſtokratie, namentlich ſo weit in dieſen die Herrſchaft der Damen reichte. Aber die Höflichkeit der Formen verminderte ſich erheblich, wenn man mit jüngern Herrn in Situationen gerieth, welche nicht durch den Einfluß des Hofes oder vornehmer Frauen controllirt waren. Ich will nicht entſcheiden, wie weit das Wahrgenommne aus einer ſocialen Reaction der jüngern Geſellſchaftsſchicht gegen die früher wirkſam geweſenen deutſchen Einflüſſe oder aus einem Sinken der Erziehung in der jüngern ruſſiſchen Geſellſchaft ſeit der Epoche des Kaiſers Alexander I. zu erklären iſt, vielleicht auch aus der Contagion, welche die ſociale Entwicklung der Pariſer Kreiſe auf die der höhern ruſſiſchen Geſellſchaft auszuüben pflegt. Gute Manieren und vollkommne Höflichkeit ſind in den herrſchenden Kreiſen von Frankreich außerhalb des Faubourg St. Germain heut nicht mehr ſo verbreitet, wie es früher der Fall war, und wie ich ſie in Berührung mit ältern Franzoſen und mit franzöſiſchen und noch gewinnender bei ruſſiſchen Damen jeden Alters kennen gelernt habe. Da übrigens meine Stellung in Petersburg mich nicht zu einem intimen Verkehr mit der jüngſten erwachſenen Generation nöthigte, ſo habe ich von meinem dortigen Aufenthalt nur die an¬ genehme Erinnerung behalten, welche ich der Liebenswürdigkeit des Hofes, der ältern Herrn und der Damen der Geſellſchaft verdanke. Die antideutſche Stimmung der jüngern Generation hat ſich <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0250" n="223"/><fw place="top" type="header">Petersburger Straßenleben. 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Petersburger Straßenleben. Geſellſchaftlicher Ton.
in guten Manieren und geſellſchaftlichem Tone die jüngere zeit¬
genöſſiſche Generation zurück ſtand gegen die vorhergehende des
Kaiſers Nicolaus und beide wieder in europäiſcher Bildung und
Geſammterziehung gegen die alten Herrn aus der Zeit Alexanders I.
Deſſenungeachtet blieb innerhalb der Hofkreiſe und der „Geſellſchaft“
der vollendete gute Ton in Geltung und in den Häuſern der Ari¬
ſtokratie, namentlich ſo weit in dieſen die Herrſchaft der Damen
reichte. Aber die Höflichkeit der Formen verminderte ſich erheblich,
wenn man mit jüngern Herrn in Situationen gerieth, welche nicht
durch den Einfluß des Hofes oder vornehmer Frauen controllirt waren.
Ich will nicht entſcheiden, wie weit das Wahrgenommne aus einer
ſocialen Reaction der jüngern Geſellſchaftsſchicht gegen die früher
wirkſam geweſenen deutſchen Einflüſſe oder aus einem Sinken der
Erziehung in der jüngern ruſſiſchen Geſellſchaft ſeit der Epoche
des Kaiſers Alexander I. zu erklären iſt, vielleicht auch aus der
Contagion, welche die ſociale Entwicklung der Pariſer Kreiſe auf
die der höhern ruſſiſchen Geſellſchaft auszuüben pflegt. Gute
Manieren und vollkommne Höflichkeit ſind in den herrſchenden
Kreiſen von Frankreich außerhalb des Faubourg St. Germain heut
nicht mehr ſo verbreitet, wie es früher der Fall war, und wie ich
ſie in Berührung mit ältern Franzoſen und mit franzöſiſchen und
noch gewinnender bei ruſſiſchen Damen jeden Alters kennen gelernt
habe. Da übrigens meine Stellung in Petersburg mich nicht zu
einem intimen Verkehr mit der jüngſten erwachſenen Generation
nöthigte, ſo habe ich von meinem dortigen Aufenthalt nur die an¬
genehme Erinnerung behalten, welche ich der Liebenswürdigkeit des
Hofes, der ältern Herrn und der Damen der Geſellſchaft verdanke.
Die antideutſche Stimmung der jüngern Generation hat ſich
demnächſt mir und Andern auch auf dem Gebiete der politiſchen
Beziehungen zu uns fühlbar gemacht, in verſtärktem Maße, ſeit
mein ruſſiſcher College, Fürſt Gortſchakow, ſeine ihn beherrſchende
Eitelkeit auch mir gegenüber herauskehrte. So lange er das Gefühl
hatte, in mir einen jüngern Freund zu ſehn, an deſſen politiſcher
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