"Mein lieber Bismarck, Sie werden sich ungefähr denken können, warum ich Ihnen bisher nicht geantwortet; ich hoffte und hoffte immer wieder auf eine Entscheidung oder doch auf eine Situation, welche eine akute Lösung herbeiführen müßte. Leider haben meine, unsere Leiden noch immer einen ganz chronischen Charakter. Jetzt ist ein neues Moment -- die Freisprechung der Verleumder von der Heydts -- hinzugetreten, aber auch das wird sich im märkischen Sande ver¬ laufen. Ich habe mich der misere generale auf einige Tage ent¬ zogen, als ich bei der Abreise des Königs nach D(oberan) hierher (Zimmerhausen) floh, um Hühner zu schießen. Bernstorff, den ich vor 3-4 Wochen ganz entschlossen fand, seinen Posten zu ver¬ lassen, der ihm viel zu schwer und sauer wird, sagte mir vor 8 Tagen, daß er doch nicht wisse, ob er nach dem Schluß der parlamentarischen Session nicht dem Wunsche des Königs (falls er ausgesprochen werden sollte) werde nachgeben und bleiben müssen, wiewohl seine Sehnsucht nach Erlösung nicht erloschen sei, d. h. in die Wirklichkeit übersetzt, die Session hat sich so lange hinge¬ zogen, daß ihr Schluß voraussichtlich mit der Entbindung der Gräfin ungefähr zusammenfallen wird; daß daher eine Versetzungs¬ reise im Winter alsdann noch viel weniger passen würde als ohne dies. Schon früher sagte er mir nämlich, daß seine Versetzung nach London spätestens im September stattfinden müsse, wenn sie für ihn annehmlich sein sollte. Diese vielleicht verdammliche Selbst¬ sucht auf der einen und die Unentschlossenheit des Königs auf der anderen Seite, verbunden mit v. d. Heydts Ansicht, daß er sich zwar einen Präsidenten, nicht aber einen solchen aus der Zahl jüngerer Collegen gefallen lassen könne und werde, läßt mich zu der früheren Behauptung zurückkehren, daß Sie als Minister¬ präsident und zwar vorläufig ohne Portefeuille eintreten müssen; letzteres wird sich später von selbst finden. Daß wir in die Winter¬
Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.
Roon antwortete mir am 31. Auguſt 1862:
„Mein lieber Bismarck, Sie werden ſich ungefähr denken können, warum ich Ihnen bisher nicht geantwortet; ich hoffte und hoffte immer wieder auf eine Entſcheidung oder doch auf eine Situation, welche eine akute Löſung herbeiführen müßte. Leider haben meine, unſere Leiden noch immer einen ganz chroniſchen Charakter. Jetzt iſt ein neues Moment — die Freiſprechung der Verleumder von der Heydts — hinzugetreten, aber auch das wird ſich im märkiſchen Sande ver¬ laufen. Ich habe mich der misère générale auf einige Tage ent¬ zogen, als ich bei der Abreiſe des Königs nach D(oberan) hierher (Zimmerhauſen) floh, um Hühner zu ſchießen. Bernſtorff, den ich vor 3-4 Wochen ganz entſchloſſen fand, ſeinen Poſten zu ver¬ laſſen, der ihm viel zu ſchwer und ſauer wird, ſagte mir vor 8 Tagen, daß er doch nicht wiſſe, ob er nach dem Schluß der parlamentariſchen Seſſion nicht dem Wunſche des Königs (falls er ausgeſprochen werden ſollte) werde nachgeben und bleiben müſſen, wiewohl ſeine Sehnſucht nach Erlöſung nicht erloſchen ſei, d. h. in die Wirklichkeit überſetzt, die Seſſion hat ſich ſo lange hinge¬ zogen, daß ihr Schluß vorausſichtlich mit der Entbindung der Gräfin ungefähr zuſammenfallen wird; daß daher eine Verſetzungs¬ reiſe im Winter alsdann noch viel weniger paſſen würde als ohne dies. Schon früher ſagte er mir nämlich, daß ſeine Verſetzung nach London ſpäteſtens im September ſtattfinden müſſe, wenn ſie für ihn annehmlich ſein ſollte. Dieſe vielleicht verdammliche Selbſt¬ ſucht auf der einen und die Unentſchloſſenheit des Königs auf der anderen Seite, verbunden mit v. d. Heydts Anſicht, daß er ſich zwar einen Präſidenten, nicht aber einen ſolchen aus der Zahl jüngerer Collegen gefallen laſſen könne und werde, läßt mich zu der früheren Behauptung zurückkehren, daß Sie als Miniſter¬ präſident und zwar vorläufig ohne Portefeuille eintreten müſſen; letzteres wird ſich ſpäter von ſelbſt finden. Daß wir in die Winter¬
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Elftes Kapitel: Zwiſchenzuſtand.
Roon antwortete mir am 31. Auguſt 1862:
„Mein lieber Bismarck,
Sie werden ſich ungefähr denken können, warum ich Ihnen
bisher nicht geantwortet; ich hoffte und hoffte immer wieder auf
eine Entſcheidung oder doch auf eine Situation, welche eine akute
Löſung herbeiführen müßte. Leider haben meine, unſere Leiden
noch immer einen ganz chroniſchen Charakter. Jetzt iſt ein neues
Moment — die Freiſprechung der Verleumder von der Heydts —
hinzugetreten, aber auch das wird ſich im märkiſchen Sande ver¬
laufen. Ich habe mich der misère générale auf einige Tage ent¬
zogen, als ich bei der Abreiſe des Königs nach D(oberan) hierher
(Zimmerhauſen) floh, um Hühner zu ſchießen. Bernſtorff, den ich
vor 3-4 Wochen ganz entſchloſſen fand, ſeinen Poſten zu ver¬
laſſen, der ihm viel zu ſchwer und ſauer wird, ſagte mir vor
8 Tagen, daß er doch nicht wiſſe, ob er nach dem Schluß der
parlamentariſchen Seſſion nicht dem Wunſche des Königs (falls
er ausgeſprochen werden ſollte) werde nachgeben und bleiben müſſen,
wiewohl ſeine Sehnſucht nach Erlöſung nicht erloſchen ſei, d. h.
in die Wirklichkeit überſetzt, die Seſſion hat ſich ſo lange hinge¬
zogen, daß ihr Schluß vorausſichtlich mit der Entbindung der
Gräfin ungefähr zuſammenfallen wird; daß daher eine Verſetzungs¬
reiſe im Winter alsdann noch viel weniger paſſen würde als ohne
dies. Schon früher ſagte er mir nämlich, daß ſeine Verſetzung
nach London ſpäteſtens im September ſtattfinden müſſe, wenn ſie
für ihn annehmlich ſein ſollte. Dieſe vielleicht verdammliche Selbſt¬
ſucht auf der einen und die Unentſchloſſenheit des Königs auf der
anderen Seite, verbunden mit v. d. Heydts Anſicht, daß er ſich
zwar einen Präſidenten, nicht aber einen ſolchen aus der Zahl
jüngerer Collegen gefallen laſſen könne und werde, läßt mich zu
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präſident und zwar vorläufig ohne Portefeuille eintreten müſſen;
letzteres wird ſich ſpäter von ſelbſt finden. Daß wir in die Winter¬
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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/289>, abgerufen am 22.11.2024.
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