Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußische Politik. Verantwortlichkeit dafür sofort richtig vertheilt worden. Erst dieAusschüttung der Archive und die Denkwürdigkeiten Mithandelnder und Mitwissender setzten 50 bis 100 Jahre später die öffentliche Meinung in den Stand, für die einzelnen Mißgriffe das proton pseudost, die Gabelung auf den unrichtigen Weg zu erkennen. Friedrich der Große hinterließ ein reiches Erbe von Autorität und von Glauben an die preußische Politik und Macht. Seine Erben konnten, wie heut der neue Curs von der Erbschaft des alten, zwei Jahrzehnte hindurch davon zehren, ohne sich über die Schwächen und Irrthümer ihrer Epigonenwirthschaft klar zu werden; noch in die Schlacht von Jena hinein trugen sie sich mit der Ueberschätzung des eignen militärischen und politischen Könnens. Erst der Zu¬ sammenbruch der folgenden Wochen brachte den Hof und das Volk zu dem Bewußtsein, daß Ungeschick und Irrthum in der Staats¬ leitung obgewaltet hatten. Wessen Ungeschick und wessen Irrthum aber, wer persönlich die Verantwortlichkeit für diesen gewaltigen und unerwarteten Zusammenbruch trug, darüber kann selbst heut noch gestritten werden. In einer absoluten Monarchie, und Preußen war damals eine Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußiſche Politik. Verantwortlichkeit dafür ſofort richtig vertheilt worden. Erſt dieAusſchüttung der Archive und die Denkwürdigkeiten Mithandelnder und Mitwiſſender ſetzten 50 bis 100 Jahre ſpäter die öffentliche Meinung in den Stand, für die einzelnen Mißgriffe das πρῶτον ψεῦδοϛ, die Gabelung auf den unrichtigen Weg zu erkennen. Friedrich der Große hinterließ ein reiches Erbe von Autorität und von Glauben an die preußiſche Politik und Macht. Seine Erben konnten, wie heut der neue Curs von der Erbſchaft des alten, zwei Jahrzehnte hindurch davon zehren, ohne ſich über die Schwächen und Irrthümer ihrer Epigonenwirthſchaft klar zu werden; noch in die Schlacht von Jena hinein trugen ſie ſich mit der Ueberſchätzung des eignen militäriſchen und politiſchen Könnens. Erſt der Zu¬ ſammenbruch der folgenden Wochen brachte den Hof und das Volk zu dem Bewußtſein, daß Ungeſchick und Irrthum in der Staats¬ leitung obgewaltet hatten. Weſſen Ungeſchick und weſſen Irrthum aber, wer perſönlich die Verantwortlichkeit für dieſen gewaltigen und unerwarteten Zuſammenbruch trug, darüber kann ſelbſt heut noch geſtritten werden. In einer abſoluten Monarchie, und Preußen war damals eine <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0305" n="278"/><fw place="top" type="header">Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußiſche Politik.<lb/></fw> Verantwortlichkeit dafür ſofort richtig vertheilt worden. Erſt die<lb/> Ausſchüttung der Archive und die Denkwürdigkeiten Mithandelnder<lb/> und Mitwiſſender ſetzten 50 bis 100 Jahre ſpäter die öffentliche<lb/> Meinung in den Stand, für die einzelnen Mißgriffe das πρῶτον<lb/> ψεῦδοϛ, die Gabelung auf den unrichtigen Weg zu erkennen.<lb/> Friedrich der Große hinterließ ein reiches Erbe von Autorität und<lb/> von Glauben an die preußiſche Politik und Macht. Seine Erben<lb/> konnten, wie heut der neue Curs von der Erbſchaft des alten, zwei<lb/> Jahrzehnte hindurch davon zehren, ohne ſich über die Schwächen<lb/> und Irrthümer ihrer Epigonenwirthſchaft klar zu werden; noch in<lb/> die Schlacht von Jena hinein trugen ſie ſich mit der Ueberſchätzung<lb/> des eignen militäriſchen und politiſchen Könnens. Erſt der Zu¬<lb/> ſammenbruch der folgenden Wochen brachte den Hof und das Volk<lb/> zu dem Bewußtſein, daß Ungeſchick und Irrthum in der Staats¬<lb/> leitung obgewaltet hatten. Weſſen Ungeſchick und weſſen Irrthum<lb/> aber, wer perſönlich die Verantwortlichkeit für dieſen gewaltigen<lb/> und unerwarteten Zuſammenbruch trug, darüber kann ſelbſt heut<lb/> noch geſtritten werden.</p><lb/> <p>In einer abſoluten Monarchie, und Preußen war damals eine<lb/> ſolche, hat an der Verantwortlichkeit für die Politik außer dem<lb/> Souverän Niemand einen genau nachweislichen Antheil; faßt oder<lb/> genehmigt dieſer verhängnißvolle Beſchlüſſe, ſo kann Niemand<lb/> beurtheilen, ob ſie das Ergebniß eignen moraliſchen Willens oder<lb/> des Einfluſſes ſind, den die verſchiedenartigſten Perſönlichkeiten<lb/> männlichen und weiblichen Geſchlechts, Adjutanten, Höflinge und<lb/> politiſche Intriganten, Schmeichler, Schwätzer und Ohrenbläſer<lb/> auf den Monarchen geübt haben. Die Allerhöchſte Unterſchrift<lb/> deckt ſchließlich Alles; wie ſie erreicht worden iſt, erfährt kein<lb/> Menſch. Dem jedesmaligen Miniſter die Verantwortlichkeit für<lb/> das Geſchehene aufzuerlegen, iſt für monarchiſche Auffaſſungen<lb/> der nächſtliegende Ausweg. Aber ſelbſt wenn die Form des Ab¬<lb/> ſolutismus der Form der Verfaſſung Platz gemacht hat, iſt die<lb/> ſogenannte Miniſterverantwortlichkeit keine von dem Willen des<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [278/0305]
Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußiſche Politik.
Verantwortlichkeit dafür ſofort richtig vertheilt worden. Erſt die
Ausſchüttung der Archive und die Denkwürdigkeiten Mithandelnder
und Mitwiſſender ſetzten 50 bis 100 Jahre ſpäter die öffentliche
Meinung in den Stand, für die einzelnen Mißgriffe das πρῶτον
ψεῦδοϛ, die Gabelung auf den unrichtigen Weg zu erkennen.
Friedrich der Große hinterließ ein reiches Erbe von Autorität und
von Glauben an die preußiſche Politik und Macht. Seine Erben
konnten, wie heut der neue Curs von der Erbſchaft des alten, zwei
Jahrzehnte hindurch davon zehren, ohne ſich über die Schwächen
und Irrthümer ihrer Epigonenwirthſchaft klar zu werden; noch in
die Schlacht von Jena hinein trugen ſie ſich mit der Ueberſchätzung
des eignen militäriſchen und politiſchen Könnens. Erſt der Zu¬
ſammenbruch der folgenden Wochen brachte den Hof und das Volk
zu dem Bewußtſein, daß Ungeſchick und Irrthum in der Staats¬
leitung obgewaltet hatten. Weſſen Ungeſchick und weſſen Irrthum
aber, wer perſönlich die Verantwortlichkeit für dieſen gewaltigen
und unerwarteten Zuſammenbruch trug, darüber kann ſelbſt heut
noch geſtritten werden.
In einer abſoluten Monarchie, und Preußen war damals eine
ſolche, hat an der Verantwortlichkeit für die Politik außer dem
Souverän Niemand einen genau nachweislichen Antheil; faßt oder
genehmigt dieſer verhängnißvolle Beſchlüſſe, ſo kann Niemand
beurtheilen, ob ſie das Ergebniß eignen moraliſchen Willens oder
des Einfluſſes ſind, den die verſchiedenartigſten Perſönlichkeiten
männlichen und weiblichen Geſchlechts, Adjutanten, Höflinge und
politiſche Intriganten, Schmeichler, Schwätzer und Ohrenbläſer
auf den Monarchen geübt haben. Die Allerhöchſte Unterſchrift
deckt ſchließlich Alles; wie ſie erreicht worden iſt, erfährt kein
Menſch. Dem jedesmaligen Miniſter die Verantwortlichkeit für
das Geſchehene aufzuerlegen, iſt für monarchiſche Auffaſſungen
der nächſtliegende Ausweg. Aber ſelbſt wenn die Form des Ab¬
ſolutismus der Form der Verfaſſung Platz gemacht hat, iſt die
ſogenannte Miniſterverantwortlichkeit keine von dem Willen des
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