Erstes Kapitel: Bis zum Ersten Vereinigten Landtage.
Die Personen und Einrichtungen unsrer Justiz, in der ich zunächst beschäftigt war, gaben meiner jugendlichen Auffassung mehr Stoff zur Kritik als zur Anerkennung. Die praktische Ausbildung des Auscultators begann damit, daß man auf dem Criminalgericht das Protokoll zu führen hatte, wozu ich von dem Rathe, dem ich zugewiesen war, Herrn von Brauchitsch, über die Gebühr heran¬ gezogen wurde, weil ich damals über den Durchschnitt schnell und lesbar schrieb. Von den "Untersuchungen", wie die Criminal¬ prozesse bei dem damals geltenden Inquisitionsverfahren genannt wurden, hat mir eine den nachhaltigsten Eindruck hinterlassen, welche eine in Berlin weit verzweigte Verbindung zum Zweck der unnatür¬ lichen Laster betraf. Die Klubeinrichtungen der Betheiligten, die Stammbücher, die gleichmachende Wirkung des gemeinschaftlichen Betreibens des Verbotenen durch alle Stände hindurch -- alles das bewies schon 1835 eine Demoralisation, welche hinter den Ergebnissen des Prozesses gegen die Heinze'schen Eheleute (October 1891) nicht zurückstand. Die Verzweigungen dieser Gesellschaft reichten bis in hohe Kreise hinauf. Es wurde dem Einflusse des Fürsten Wittgenstein zugeschrieben, daß die Akten von dem Justiz¬ ministerium eingefordert und, wenigstens während meiner Thätigkeit an dem Criminalgerichte, nicht zurückgegeben wurden.
Nachdem ich vier Monate protokollirt hatte, wurde ich zu dem Stadtgerichte, vor das die Civilsachen gehörten, versetzt und aus der mechanischen Beschäftigung des Schreibens unter Dictat plötzlich zu einer selbständigen erhoben, der gegenüber meine Unerfahrenheit und mein Gefühl mir die Stellung erschwerten. Das erste Stadium, in welchem der juristische Neuling damals zu einer selbständigen Thätigkeit berufen wurde, waren nämlich die Ehescheidungen. Offenbar als das Unwichtigste betrachtet, waren sie dem unfähigsten Rathe, Namens Prätorius, übertragen, und unter ihm der Be¬ arbeitung der ganz grünen Auscultatoren überlassen worden, die damit in corpore vili ihre ersten Experimente in der Richterrolle zu machen hatten, allerdings unter nomineller Verantwortlichkeit
Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage.
Die Perſonen und Einrichtungen unſrer Juſtiz, in der ich zunächſt beſchäftigt war, gaben meiner jugendlichen Auffaſſung mehr Stoff zur Kritik als zur Anerkennung. Die praktiſche Ausbildung des Auscultators begann damit, daß man auf dem Criminalgericht das Protokoll zu führen hatte, wozu ich von dem Rathe, dem ich zugewieſen war, Herrn von Brauchitſch, über die Gebühr heran¬ gezogen wurde, weil ich damals über den Durchſchnitt ſchnell und lesbar ſchrieb. Von den „Unterſuchungen“, wie die Criminal¬ prozeſſe bei dem damals geltenden Inquiſitionsverfahren genannt wurden, hat mir eine den nachhaltigſten Eindruck hinterlaſſen, welche eine in Berlin weit verzweigte Verbindung zum Zweck der unnatür¬ lichen Laſter betraf. Die Klubeinrichtungen der Betheiligten, die Stammbücher, die gleichmachende Wirkung des gemeinſchaftlichen Betreibens des Verbotenen durch alle Stände hindurch — alles das bewies ſchon 1835 eine Demoraliſation, welche hinter den Ergebniſſen des Prozeſſes gegen die Heinze'ſchen Eheleute (October 1891) nicht zurückſtand. Die Verzweigungen dieſer Geſellſchaft reichten bis in hohe Kreiſe hinauf. Es wurde dem Einfluſſe des Fürſten Wittgenſtein zugeſchrieben, daß die Akten von dem Juſtiz¬ miniſterium eingefordert und, wenigſtens während meiner Thätigkeit an dem Criminalgerichte, nicht zurückgegeben wurden.
Nachdem ich vier Monate protokollirt hatte, wurde ich zu dem Stadtgerichte, vor das die Civilſachen gehörten, verſetzt und aus der mechaniſchen Beſchäftigung des Schreibens unter Dictat plötzlich zu einer ſelbſtändigen erhoben, der gegenüber meine Unerfahrenheit und mein Gefühl mir die Stellung erſchwerten. Das erſte Stadium, in welchem der juriſtiſche Neuling damals zu einer ſelbſtändigen Thätigkeit berufen wurde, waren nämlich die Eheſcheidungen. Offenbar als das Unwichtigſte betrachtet, waren ſie dem unfähigſten Rathe, Namens Prätorius, übertragen, und unter ihm der Be¬ arbeitung der ganz grünen Auscultatoren überlaſſen worden, die damit in corpore vili ihre erſten Experimente in der Richterrolle zu machen hatten, allerdings unter nomineller Verantwortlichkeit
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Erſtes Kapitel: Bis zum Erſten Vereinigten Landtage.
Die Perſonen und Einrichtungen unſrer Juſtiz, in der ich
zunächſt beſchäftigt war, gaben meiner jugendlichen Auffaſſung mehr
Stoff zur Kritik als zur Anerkennung. Die praktiſche Ausbildung
des Auscultators begann damit, daß man auf dem Criminalgericht
das Protokoll zu führen hatte, wozu ich von dem Rathe, dem ich
zugewieſen war, Herrn von Brauchitſch, über die Gebühr heran¬
gezogen wurde, weil ich damals über den Durchſchnitt ſchnell und
lesbar ſchrieb. Von den „Unterſuchungen“, wie die Criminal¬
prozeſſe bei dem damals geltenden Inquiſitionsverfahren genannt
wurden, hat mir eine den nachhaltigſten Eindruck hinterlaſſen, welche
eine in Berlin weit verzweigte Verbindung zum Zweck der unnatür¬
lichen Laſter betraf. Die Klubeinrichtungen der Betheiligten, die
Stammbücher, die gleichmachende Wirkung des gemeinſchaftlichen
Betreibens des Verbotenen durch alle Stände hindurch — alles
das bewies ſchon 1835 eine Demoraliſation, welche hinter den
Ergebniſſen des Prozeſſes gegen die Heinze'ſchen Eheleute (October
1891) nicht zurückſtand. Die Verzweigungen dieſer Geſellſchaft
reichten bis in hohe Kreiſe hinauf. Es wurde dem Einfluſſe des
Fürſten Wittgenſtein zugeſchrieben, daß die Akten von dem Juſtiz¬
miniſterium eingefordert und, wenigſtens während meiner Thätigkeit
an dem Criminalgerichte, nicht zurückgegeben wurden.
Nachdem ich vier Monate protokollirt hatte, wurde ich zu dem
Stadtgerichte, vor das die Civilſachen gehörten, verſetzt und aus
der mechaniſchen Beſchäftigung des Schreibens unter Dictat plötzlich
zu einer ſelbſtändigen erhoben, der gegenüber meine Unerfahrenheit
und mein Gefühl mir die Stellung erſchwerten. Das erſte Stadium,
in welchem der juriſtiſche Neuling damals zu einer ſelbſtändigen
Thätigkeit berufen wurde, waren nämlich die Eheſcheidungen.
Offenbar als das Unwichtigſte betrachtet, waren ſie dem unfähigſten
Rathe, Namens Prätorius, übertragen, und unter ihm der Be¬
arbeitung der ganz grünen Auscultatoren überlaſſen worden, die
damit in corpore vili ihre erſten Experimente in der Richterrolle
zu machen hatten, allerdings unter nomineller Verantwortlichkeit
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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/33>, abgerufen am 21.11.2024.
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