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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.

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Geringschätzung Preußens in Wien. Oestreichs Selbstüberschätzung.
in den fortschrittlichen Blättern *)bis zu den offnen Kundgebungen
großer communaler Körperschaften und dem Ausfall der Wahlen,
bezeugen. Aber in unsre Regimenter und deren Feuergefecht auf
den Schlachtfeldern reichten diese Strömungen nicht hinein, und
auf den Schlachtfeldern lag schließlich die Entscheidung. Auch die
symptomatische Thatsache, daß in Berlin durch Vermittlung des
frühern auswärtigen und damaligen Hausministers von Schleinitz
noch während der ersten Gefechte in Böhmen diplomatische Zette¬
lungen mit höfischer Beziehung stattfanden, blieb auf die militärische
Seite der Kriegführung ohne jeden Einfluß.

Wenn das östreichische Cabinet die vertrauliche Eröffnung,
die ich dem Grafen Karolyi 1862 gemacht hatte, ohne irrthüm¬
liche Schätzung der Realitäten richtig gewürdigt und seine Politik
dahin modificirt hätte, die Verständigung mit Preußen anstatt dessen
Vergewaltigung durch Majoritäten und andre Einflüsse zu suchen,
so hätten wir wahrscheinlich eine Periode dualistischer Politik in
Deutschland erlebt oder doch versucht. Es ist freilich zweifelhaft,
ob eine solche ohne die klärende Wirkung der Erfahrungen von
1866 und 1870 sich in einem für das deutsche Nationalgefühl an¬
nehmbaren Sinne friedlich, unter dauernder Verhütung des innern
Zwiespalts, hätte entwickeln können. Der Glaube an die militärische
Ueberlegenheit Oestreichs war in Wien und an den mittelstaat¬
lichen Höfen zu stark für einen modus vivendi auf dem Fuße der
Gleichheit mit Preußen. Der Beweis für Wien lag in den Pro¬
clamationen, die in den Tornistern der östreichischen Soldaten
neben den neuen, zum Einzuge in Berlin bestimmten Uniformen
gefunden wurden und deren Inhalt die Sicherheit verrieth, mit der
man auf siegreiche Occupation der preußischen Provinzen gerechnet
hatte. Auch die Ablehnung der letzten durch den Bruder des

*) In den Berliner Bilderläden hing eine Lithographie aus, in der das
Attentat so dargestellt war, daß der Teufel die für mich bestimmten Kugeln
auffing mit den Worten: Der gehört mir! (Vgl. Politische Reden X 123, Rede
vom 9. Mai 1884).
Otto Fürst von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 22

Geringſchätzung Preußens in Wien. Oeſtreichs Selbſtüberſchätzung.
in den fortſchrittlichen Blättern *)bis zu den offnen Kundgebungen
großer communaler Körperſchaften und dem Ausfall der Wahlen,
bezeugen. Aber in unſre Regimenter und deren Feuergefecht auf
den Schlachtfeldern reichten dieſe Strömungen nicht hinein, und
auf den Schlachtfeldern lag ſchließlich die Entſcheidung. Auch die
ſymptomatiſche Thatſache, daß in Berlin durch Vermittlung des
frühern auswärtigen und damaligen Hausminiſters von Schleinitz
noch während der erſten Gefechte in Böhmen diplomatiſche Zette¬
lungen mit höfiſcher Beziehung ſtattfanden, blieb auf die militäriſche
Seite der Kriegführung ohne jeden Einfluß.

Wenn das öſtreichiſche Cabinet die vertrauliche Eröffnung,
die ich dem Grafen Karolyi 1862 gemacht hatte, ohne irrthüm¬
liche Schätzung der Realitäten richtig gewürdigt und ſeine Politik
dahin modificirt hätte, die Verſtändigung mit Preußen anſtatt deſſen
Vergewaltigung durch Majoritäten und andre Einflüſſe zu ſuchen,
ſo hätten wir wahrſcheinlich eine Periode dualiſtiſcher Politik in
Deutſchland erlebt oder doch verſucht. Es iſt freilich zweifelhaft,
ob eine ſolche ohne die klärende Wirkung der Erfahrungen von
1866 und 1870 ſich in einem für das deutſche Nationalgefühl an¬
nehmbaren Sinne friedlich, unter dauernder Verhütung des innern
Zwieſpalts, hätte entwickeln können. Der Glaube an die militäriſche
Ueberlegenheit Oeſtreichs war in Wien und an den mittelſtaat¬
lichen Höfen zu ſtark für einen modus vivendi auf dem Fuße der
Gleichheit mit Preußen. Der Beweis für Wien lag in den Pro¬
clamationen, die in den Torniſtern der öſtreichiſchen Soldaten
neben den neuen, zum Einzuge in Berlin beſtimmten Uniformen
gefunden wurden und deren Inhalt die Sicherheit verrieth, mit der
man auf ſiegreiche Occupation der preußiſchen Provinzen gerechnet
hatte. Auch die Ablehnung der letzten durch den Bruder des

*) In den Berliner Bilderläden hing eine Lithographie aus, in der das
Attentat ſo dargeſtellt war, daß der Teufel die für mich beſtimmten Kugeln
auffing mit den Worten: Der gehört mir! (Vgl. Politiſche Reden X 123, Rede
vom 9. Mai 1884).
Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 22
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[337/0364] Geringſchätzung Preußens in Wien. Oeſtreichs Selbſtüberſchätzung. in den fortſchrittlichen Blättern *)bis zu den offnen Kundgebungen großer communaler Körperſchaften und dem Ausfall der Wahlen, bezeugen. Aber in unſre Regimenter und deren Feuergefecht auf den Schlachtfeldern reichten dieſe Strömungen nicht hinein, und auf den Schlachtfeldern lag ſchließlich die Entſcheidung. Auch die ſymptomatiſche Thatſache, daß in Berlin durch Vermittlung des frühern auswärtigen und damaligen Hausminiſters von Schleinitz noch während der erſten Gefechte in Böhmen diplomatiſche Zette¬ lungen mit höfiſcher Beziehung ſtattfanden, blieb auf die militäriſche Seite der Kriegführung ohne jeden Einfluß. Wenn das öſtreichiſche Cabinet die vertrauliche Eröffnung, die ich dem Grafen Karolyi 1862 gemacht hatte, ohne irrthüm¬ liche Schätzung der Realitäten richtig gewürdigt und ſeine Politik dahin modificirt hätte, die Verſtändigung mit Preußen anſtatt deſſen Vergewaltigung durch Majoritäten und andre Einflüſſe zu ſuchen, ſo hätten wir wahrſcheinlich eine Periode dualiſtiſcher Politik in Deutſchland erlebt oder doch verſucht. Es iſt freilich zweifelhaft, ob eine ſolche ohne die klärende Wirkung der Erfahrungen von 1866 und 1870 ſich in einem für das deutſche Nationalgefühl an¬ nehmbaren Sinne friedlich, unter dauernder Verhütung des innern Zwieſpalts, hätte entwickeln können. Der Glaube an die militäriſche Ueberlegenheit Oeſtreichs war in Wien und an den mittelſtaat¬ lichen Höfen zu ſtark für einen modus vivendi auf dem Fuße der Gleichheit mit Preußen. Der Beweis für Wien lag in den Pro¬ clamationen, die in den Torniſtern der öſtreichiſchen Soldaten neben den neuen, zum Einzuge in Berlin beſtimmten Uniformen gefunden wurden und deren Inhalt die Sicherheit verrieth, mit der man auf ſiegreiche Occupation der preußiſchen Provinzen gerechnet hatte. Auch die Ablehnung der letzten durch den Bruder des *) In den Berliner Bilderläden hing eine Lithographie aus, in der das Attentat ſo dargeſtellt war, daß der Teufel die für mich beſtimmten Kugeln auffing mit den Worten: Der gehört mir! (Vgl. Politiſche Reden X 123, Rede vom 9. Mai 1884). Otto Fürſt von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 22

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/364>, abgerufen am 26.11.2024.