Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898.
Hintergedanken des Königs. Die Camarilla: Rauch und Gerlach. Kind, in der Politik tapfer und hochfliegend, aber durch körperlichesPhlegma gehemmt. Ich erinnere mich, daß ich in Gegenwart beider Brüder, des Präsidenten und des Generals, veranlaßt wurde, mich über den ihnen gemachten Vorwurf des Unpraktischen zu erklären und das in folgender Weise that: "Wenn wir drei hier aus dem Fenster einen Unfall auf der Straße geschehn sehn, so wird der Herr Präsident daran eine geistreiche Betrachtung über unsern Mangel an Glauben und die Unvollkommenheit unsrer Einrichtungen knüpfen; der General wird genau das Richtige angeben, was unten geschehn müsse, um zu helfen, aber sitzen bleiben; ich würde der Einzige sein, der hinunter ginge oder Leute riefe, um zu helfen." So war der General der einflußreichste Politiker in der Camarilla Friedrich Wilhelms IV., ein vornehmer und selbstloser Charakter, ein treuer Diener des Königs, aber geistig vielleicht ebenso wie körperlich durch das Schwergewicht seiner Person an der prompten Ausführung seiner richtigen Gedanken behindert. An Tagen, wo der König ungerecht oder ungnädig für ihn gewesen war, wurde in der Abendandacht im Hause des Generals wohl das alte Kirchen¬ lied gesungen: Verlasse Dich auf Fürsten nicht, Sie sind wie eine Wiege. Wer heute Hosianna spricht, Ruft morgen crucifige. Aber seine Hingebung für den König erlitt unter diesem christ¬ Hintergedanken des Königs. Die Camarilla: Rauch und Gerlach. Kind, in der Politik tapfer und hochfliegend, aber durch körperlichesPhlegma gehemmt. Ich erinnere mich, daß ich in Gegenwart beider Brüder, des Präſidenten und des Generals, veranlaßt wurde, mich über den ihnen gemachten Vorwurf des Unpraktiſchen zu erklären und das in folgender Weiſe that: „Wenn wir drei hier aus dem Fenſter einen Unfall auf der Straße geſchehn ſehn, ſo wird der Herr Präſident daran eine geiſtreiche Betrachtung über unſern Mangel an Glauben und die Unvollkommenheit unſrer Einrichtungen knüpfen; der General wird genau das Richtige angeben, was unten geſchehn müſſe, um zu helfen, aber ſitzen bleiben; ich würde der Einzige ſein, der hinunter ginge oder Leute riefe, um zu helfen.“ So war der General der einflußreichſte Politiker in der Camarilla Friedrich Wilhelms IV., ein vornehmer und ſelbſtloſer Charakter, ein treuer Diener des Königs, aber geiſtig vielleicht ebenſo wie körperlich durch das Schwergewicht ſeiner Perſon an der prompten Ausführung ſeiner richtigen Gedanken behindert. An Tagen, wo der König ungerecht oder ungnädig für ihn geweſen war, wurde in der Abendandacht im Hauſe des Generals wohl das alte Kirchen¬ lied geſungen: Verlaſſe Dich auf Fürſten nicht, Sie ſind wie eine Wiege. Wer heute Hoſianna ſpricht, Ruft morgen crucifige. Aber ſeine Hingebung für den König erlitt unter dieſem chriſt¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0074" n="47"/><fw place="top" type="header">Hintergedanken des Königs. Die Camarilla: Rauch und Gerlach.<lb/></fw> Kind, in der Politik tapfer und hochfliegend, aber durch körperliches<lb/> Phlegma gehemmt. Ich erinnere mich, daß ich in Gegenwart beider<lb/> Brüder, des Präſidenten und des Generals, veranlaßt wurde, mich<lb/> über den ihnen gemachten Vorwurf des Unpraktiſchen zu erklären<lb/> und das in folgender Weiſe that: „Wenn wir drei hier aus dem<lb/> Fenſter einen Unfall auf der Straße geſchehn ſehn, ſo wird der<lb/> Herr Präſident daran eine geiſtreiche Betrachtung über unſern<lb/> Mangel an Glauben und die Unvollkommenheit unſrer Einrichtungen<lb/> knüpfen; der General wird genau das Richtige angeben, was unten<lb/> geſchehn müſſe, um zu helfen, aber ſitzen bleiben; ich würde der<lb/> Einzige ſein, der hinunter ginge oder Leute riefe, um zu helfen.“<lb/> So war der General der einflußreichſte Politiker in der Camarilla<lb/> Friedrich Wilhelms <hi rendition="#aq">IV</hi>., ein vornehmer und ſelbſtloſer Charakter,<lb/> ein treuer Diener des Königs, aber geiſtig vielleicht ebenſo wie<lb/> körperlich durch das Schwergewicht ſeiner Perſon an der prompten<lb/> Ausführung ſeiner richtigen Gedanken behindert. An Tagen, wo<lb/> der König ungerecht oder ungnädig für ihn geweſen war, wurde<lb/> in der Abendandacht im Hauſe des Generals wohl das alte Kirchen¬<lb/> lied geſungen:</p><lb/> <lg type="poem"> <l>Verlaſſe Dich auf Fürſten nicht,</l><lb/> <l>Sie ſind wie eine Wiege.</l><lb/> <l>Wer heute Hoſianna ſpricht,</l><lb/> <l>Ruft morgen <hi rendition="#aq">crucifige</hi>.</l><lb/> </lg> <p>Aber ſeine Hingebung für den König erlitt unter dieſem chriſt¬<lb/> lichen Erguß ſeiner Verſtimmung nicht die mindeſte Abſchwächung.<lb/> Auch für den ſeiner Meinung nach irrenden König ſetzte er ſich<lb/> voll mit Leib und Leben ein, wie er ſchließlich ſeinen Tod dadurch<lb/> faſt eigenwillig herbeiführte, daß er hinter der Leiche ſeines Königs<lb/> bei Wind und ſehr hoher Kälte ſtundenlang in bloßem Kopfe, den<lb/> Helm in der Hand, folgte. Dieſer letzten formalen Hingebung<lb/> des alten Dieners für die Leiche ſeines Herrn unterlag ſeine ſchon<lb/> länger angegriffene Geſundheit; er kam mit der Kopfroſe nach<lb/> Hauſe und ſtarb nach wenigen Tagen. Durch ſein Ende erinnert<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [47/0074]
Hintergedanken des Königs. Die Camarilla: Rauch und Gerlach.
Kind, in der Politik tapfer und hochfliegend, aber durch körperliches
Phlegma gehemmt. Ich erinnere mich, daß ich in Gegenwart beider
Brüder, des Präſidenten und des Generals, veranlaßt wurde, mich
über den ihnen gemachten Vorwurf des Unpraktiſchen zu erklären
und das in folgender Weiſe that: „Wenn wir drei hier aus dem
Fenſter einen Unfall auf der Straße geſchehn ſehn, ſo wird der
Herr Präſident daran eine geiſtreiche Betrachtung über unſern
Mangel an Glauben und die Unvollkommenheit unſrer Einrichtungen
knüpfen; der General wird genau das Richtige angeben, was unten
geſchehn müſſe, um zu helfen, aber ſitzen bleiben; ich würde der
Einzige ſein, der hinunter ginge oder Leute riefe, um zu helfen.“
So war der General der einflußreichſte Politiker in der Camarilla
Friedrich Wilhelms IV., ein vornehmer und ſelbſtloſer Charakter,
ein treuer Diener des Königs, aber geiſtig vielleicht ebenſo wie
körperlich durch das Schwergewicht ſeiner Perſon an der prompten
Ausführung ſeiner richtigen Gedanken behindert. An Tagen, wo
der König ungerecht oder ungnädig für ihn geweſen war, wurde
in der Abendandacht im Hauſe des Generals wohl das alte Kirchen¬
lied geſungen:
Verlaſſe Dich auf Fürſten nicht,
Sie ſind wie eine Wiege.
Wer heute Hoſianna ſpricht,
Ruft morgen crucifige.
Aber ſeine Hingebung für den König erlitt unter dieſem chriſt¬
lichen Erguß ſeiner Verſtimmung nicht die mindeſte Abſchwächung.
Auch für den ſeiner Meinung nach irrenden König ſetzte er ſich
voll mit Leib und Leben ein, wie er ſchließlich ſeinen Tod dadurch
faſt eigenwillig herbeiführte, daß er hinter der Leiche ſeines Königs
bei Wind und ſehr hoher Kälte ſtundenlang in bloßem Kopfe, den
Helm in der Hand, folgte. Dieſer letzten formalen Hingebung
des alten Dieners für die Leiche ſeines Herrn unterlag ſeine ſchon
länger angegriffene Geſundheit; er kam mit der Kopfroſe nach
Hauſe und ſtarb nach wenigen Tagen. Durch ſein Ende erinnert
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
| URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898 |
| URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/74 |
| Zitationshilfe: | Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 1. Stuttgart, 1898, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen01_1898/74>, abgerufen am 26.11.2024. |
