Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.Lage vor Paris. Sorge vor der Einmischung der Neutralen. Unbekanntschaft mit dem Pariser Verpflegungs-Etat nicht über¬sehn*). Die Belagerung machte territorial keine Fortschritte, mit¬ unter sogar Rückschritte und die Vorgänge in den Provinzen waren nicht mit Sicherheit zu berechnen, namentlich so lange man ohne Nachricht war über das Verbleiben der Südarmee und Bourbakis. Man wußte eine Zeit lang nicht, ob dieselbe gegen unsre Ver¬ bindungslinie mit Deutschland operire oder auf dem Seewege an der untern Seine erscheinen werde. Wir verloren monatlich etwa zweitausend Mann vor Paris, gewannen den Belagerten kein Terrain ab und verlängerten in unberechenbarer Weise die Periode, während welcher unsre Truppen den Wandlungen des Geschickes ausgesetzt blieben, die durch unvorhergesehne Unfälle im Kampfe und durch Krankheiten, wie die Cholera 1866 vor Wien, eintreten konnten. Für mich lagen stärkere Beunruhigungen, die mir die Verschleppung der Entscheidung verursachten, auf dem politischen Gebiete, in der Besorgniß vor Einmischung der Neutralen. Je länger der Kampf dauerte, desto mehr mußte man mit der Möglichkeit rechnen, daß die latente Mißgunst und die schwanken¬ den Sympathien eine der übrigen Mächte, in der Beunruhigung über unsre Erfolge, zu der Initiative für eine diplomatische Einmischung bereit finden lassen würden und diese dann den Anschluß andrer oder aller andern herbeiführte. Wenn auch zur Zeit der Rundreise des Herrn Thiers im October "Europa nicht zu finden war", so konnte die Entdeckung dieser Potenz doch an jedem der neutralen Höfe, sogar auf dem Wege repu¬ blikanischer Sympathien in Amerika, durch den geringsten Anstoß herbeigeführt werden, den ein Cabinet dem andern gegeben hätte, indem es sondirende Fragen über die Zukunft des europäischen Gleichgewichts oder die menschenfreundliche Heuchelei, durch welche *) Am 22. September hatte Moltke an seinen Bruder Adolf geschrieben,
er hege im Stillen die Hoffnung, Ende October in Creisau Hasen zu schießen (Moltke, Gesammelte Werke IV 198). Lage vor Paris. Sorge vor der Einmiſchung der Neutralen. Unbekanntſchaft mit dem Pariſer Verpflegungs-Etat nicht über¬ſehn*). Die Belagerung machte territorial keine Fortſchritte, mit¬ unter ſogar Rückſchritte und die Vorgänge in den Provinzen waren nicht mit Sicherheit zu berechnen, namentlich ſo lange man ohne Nachricht war über das Verbleiben der Südarmee und Bourbakis. Man wußte eine Zeit lang nicht, ob dieſelbe gegen unſre Ver¬ bindungslinie mit Deutſchland operire oder auf dem Seewege an der untern Seine erſcheinen werde. Wir verloren monatlich etwa zweitauſend Mann vor Paris, gewannen den Belagerten kein Terrain ab und verlängerten in unberechenbarer Weiſe die Periode, während welcher unſre Truppen den Wandlungen des Geſchickes ausgeſetzt blieben, die durch unvorhergeſehne Unfälle im Kampfe und durch Krankheiten, wie die Cholera 1866 vor Wien, eintreten konnten. Für mich lagen ſtärkere Beunruhigungen, die mir die Verſchleppung der Entſcheidung verurſachten, auf dem politiſchen Gebiete, in der Beſorgniß vor Einmiſchung der Neutralen. Je länger der Kampf dauerte, deſto mehr mußte man mit der Möglichkeit rechnen, daß die latente Mißgunſt und die ſchwanken¬ den Sympathien eine der übrigen Mächte, in der Beunruhigung über unſre Erfolge, zu der Initiative für eine diplomatiſche Einmiſchung bereit finden laſſen würden und dieſe dann den Anſchluß andrer oder aller andern herbeiführte. Wenn auch zur Zeit der Rundreiſe des Herrn Thiers im October „Europa nicht zu finden war“, ſo konnte die Entdeckung dieſer Potenz doch an jedem der neutralen Höfe, ſogar auf dem Wege repu¬ blikaniſcher Sympathien in Amerika, durch den geringſten Anſtoß herbeigeführt werden, den ein Cabinet dem andern gegeben hätte, indem es ſondirende Fragen über die Zukunft des europäiſchen Gleichgewichts oder die menſchenfreundliche Heuchelei, durch welche *) Am 22. September hatte Moltke an ſeinen Bruder Adolf geſchrieben,
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Lage vor Paris. Sorge vor der Einmiſchung der Neutralen.
Unbekanntſchaft mit dem Pariſer Verpflegungs-Etat nicht über¬
ſehn *). Die Belagerung machte territorial keine Fortſchritte, mit¬
unter ſogar Rückſchritte und die Vorgänge in den Provinzen waren
nicht mit Sicherheit zu berechnen, namentlich ſo lange man ohne
Nachricht war über das Verbleiben der Südarmee und Bourbakis.
Man wußte eine Zeit lang nicht, ob dieſelbe gegen unſre Ver¬
bindungslinie mit Deutſchland operire oder auf dem Seewege an
der untern Seine erſcheinen werde. Wir verloren monatlich etwa
zweitauſend Mann vor Paris, gewannen den Belagerten kein Terrain
ab und verlängerten in unberechenbarer Weiſe die Periode, während
welcher unſre Truppen den Wandlungen des Geſchickes ausgeſetzt
blieben, die durch unvorhergeſehne Unfälle im Kampfe und
durch Krankheiten, wie die Cholera 1866 vor Wien, eintreten
konnten. Für mich lagen ſtärkere Beunruhigungen, die mir die
Verſchleppung der Entſcheidung verurſachten, auf dem politiſchen
Gebiete, in der Beſorgniß vor Einmiſchung der Neutralen. Je
länger der Kampf dauerte, deſto mehr mußte man mit der
Möglichkeit rechnen, daß die latente Mißgunſt und die ſchwanken¬
den Sympathien eine der übrigen Mächte, in der Beunruhigung
über unſre Erfolge, zu der Initiative für eine diplomatiſche
Einmiſchung bereit finden laſſen würden und dieſe dann den
Anſchluß andrer oder aller andern herbeiführte. Wenn auch
zur Zeit der Rundreiſe des Herrn Thiers im October „Europa
nicht zu finden war“, ſo konnte die Entdeckung dieſer Potenz
doch an jedem der neutralen Höfe, ſogar auf dem Wege repu¬
blikaniſcher Sympathien in Amerika, durch den geringſten Anſtoß
herbeigeführt werden, den ein Cabinet dem andern gegeben hätte,
indem es ſondirende Fragen über die Zukunft des europäiſchen
Gleichgewichts oder die menſchenfreundliche Heuchelei, durch welche
*) Am 22. September hatte Moltke an ſeinen Bruder Adolf geſchrieben,
er hege im Stillen die Hoffnung, Ende October in Creiſau Haſen zu ſchießen
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