doivent accabler le vaincu1). Daß die Gefühle der Franzosen über die erlittene Niederlage heut uns gegenüber weniger bitter sein würden, wenn die Neutralen uns genöthigt hätten, uns mit weniger zu begnügen, das wird ein so guter Kenner der französi¬ schen Geschichte und des französischen Nationalcharakters, wie der Graf Beust, schwerlich geglaubt haben.
Eine Einmischung konnte nur die Tendenz haben, uns Deutschen den Siegespreis vermittelst eines Congresses zu beschneiden. Diese mich Tag und Nacht beunruhigende Gefahr erzeugte in mir das Bedürfniß, den Friedensschluß zu beschleunigen, um ihn ohne Ein¬ mischung der Neutralen herstellen zu können. Daß dies vor der Eroberung von Paris nicht thunlich sein würde, ließ sich nach dem herkömmlichen Vorgewicht der Hauptstadt in Frankreich voraus¬ sehn. So lange Paris sich hielt, war auch von den leitenden Kreisen in Tours und Bordeaux und von den Provinzen nicht anzunehmen, daß sie die Hoffnung auf einen Umschwung aufgeben würden, mochte derselbe von neuen levees en masse, wie sie in der Schlacht an der Lisaine zur Geltung kamen, oder von der endlichen "Auffindung Europas", oder von dem Glanznebel er¬ wartet werden, der die englischen resp. westmächtlichen Schlag¬ worte: "Humanität, Civilisation" in deutschen, namentlich weib¬ lichen Gemüthern an großen Höfen umgab -- so lange bot sich an den auswärtigen Höfen, die über die Situation in Frank¬ reich doch mehr durch französische als durch deutsche Berichte orientirt waren, die Möglichkeit, den Franzosen in ihrem Friedens¬ schlusse beiständig zu sein. Für mich spitzte sich daher meine Auf¬ gabe dahin zu, mit Frankreich abzuschließen, bevor eine Verständi¬ gung der neutralen Mächte über ihre Einflußnahme auf den Frieden zu Stande gekommen wäre, grade so, wie es 1866 unser Be¬ dürfniß war, mit Oestreich abzuschließen, bevor französische Ein¬ mischung in Süddeutschland wirksam werden konnte.
1) Depesche an Graf Chotek vom 12. October, Beust a. a. O. II 397.
Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.
doivent accabler le vaincu1). Daß die Gefühle der Franzoſen über die erlittene Niederlage heut uns gegenüber weniger bitter ſein würden, wenn die Neutralen uns genöthigt hätten, uns mit weniger zu begnügen, das wird ein ſo guter Kenner der franzöſi¬ ſchen Geſchichte und des franzöſiſchen Nationalcharakters, wie der Graf Beuſt, ſchwerlich geglaubt haben.
Eine Einmiſchung konnte nur die Tendenz haben, uns Deutſchen den Siegespreis vermittelſt eines Congreſſes zu beſchneiden. Dieſe mich Tag und Nacht beunruhigende Gefahr erzeugte in mir das Bedürfniß, den Friedensſchluß zu beſchleunigen, um ihn ohne Ein¬ miſchung der Neutralen herſtellen zu können. Daß dies vor der Eroberung von Paris nicht thunlich ſein würde, ließ ſich nach dem herkömmlichen Vorgewicht der Hauptſtadt in Frankreich voraus¬ ſehn. So lange Paris ſich hielt, war auch von den leitenden Kreiſen in Tours und Bordeaux und von den Provinzen nicht anzunehmen, daß ſie die Hoffnung auf einen Umſchwung aufgeben würden, mochte derſelbe von neuen levées en masse, wie ſie in der Schlacht an der Liſaine zur Geltung kamen, oder von der endlichen „Auffindung Europas“, oder von dem Glanznebel er¬ wartet werden, der die engliſchen reſp. weſtmächtlichen Schlag¬ worte: „Humanität, Civiliſation“ in deutſchen, namentlich weib¬ lichen Gemüthern an großen Höfen umgab — ſo lange bot ſich an den auswärtigen Höfen, die über die Situation in Frank¬ reich doch mehr durch franzöſiſche als durch deutſche Berichte orientirt waren, die Möglichkeit, den Franzoſen in ihrem Friedens¬ ſchluſſe beiſtändig zu ſein. Für mich ſpitzte ſich daher meine Auf¬ gabe dahin zu, mit Frankreich abzuſchließen, bevor eine Verſtändi¬ gung der neutralen Mächte über ihre Einflußnahme auf den Frieden zu Stande gekommen wäre, grade ſo, wie es 1866 unſer Be¬ dürfniß war, mit Oeſtreich abzuſchließen, bevor franzöſiſche Ein¬ miſchung in Süddeutſchland wirkſam werden konnte.
1) Depeſche an Graf Chotek vom 12. October, Beuſt a. a. O. II 397.
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Dreiundzwanzigſtes Kapitel: Verſailles.
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ſein würden, wenn die Neutralen uns genöthigt hätten, uns mit
weniger zu begnügen, das wird ein ſo guter Kenner der franzöſi¬
ſchen Geſchichte und des franzöſiſchen Nationalcharakters, wie der
Graf Beuſt, ſchwerlich geglaubt haben.
Eine Einmiſchung konnte nur die Tendenz haben, uns Deutſchen
den Siegespreis vermittelſt eines Congreſſes zu beſchneiden. Dieſe
mich Tag und Nacht beunruhigende Gefahr erzeugte in mir das
Bedürfniß, den Friedensſchluß zu beſchleunigen, um ihn ohne Ein¬
miſchung der Neutralen herſtellen zu können. Daß dies vor der
Eroberung von Paris nicht thunlich ſein würde, ließ ſich nach dem
herkömmlichen Vorgewicht der Hauptſtadt in Frankreich voraus¬
ſehn. So lange Paris ſich hielt, war auch von den leitenden
Kreiſen in Tours und Bordeaux und von den Provinzen nicht
anzunehmen, daß ſie die Hoffnung auf einen Umſchwung aufgeben
würden, mochte derſelbe von neuen levées en masse, wie ſie in
der Schlacht an der Liſaine zur Geltung kamen, oder von der
endlichen „Auffindung Europas“, oder von dem Glanznebel er¬
wartet werden, der die engliſchen reſp. weſtmächtlichen Schlag¬
worte: „Humanität, Civiliſation“ in deutſchen, namentlich weib¬
lichen Gemüthern an großen Höfen umgab — ſo lange bot ſich
an den auswärtigen Höfen, die über die Situation in Frank¬
reich doch mehr durch franzöſiſche als durch deutſche Berichte
orientirt waren, die Möglichkeit, den Franzoſen in ihrem Friedens¬
ſchluſſe beiſtändig zu ſein. Für mich ſpitzte ſich daher meine Auf¬
gabe dahin zu, mit Frankreich abzuſchließen, bevor eine Verſtändi¬
gung der neutralen Mächte über ihre Einflußnahme auf den Frieden
zu Stande gekommen wäre, grade ſo, wie es 1866 unſer Be¬
dürfniß war, mit Oeſtreich abzuſchließen, bevor franzöſiſche Ein¬
miſchung in Süddeutſchland wirkſam werden konnte.
1) Depeſche an Graf Chotek vom 12. October, Beuſt a. a. O. II 397.
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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/126>, abgerufen am 17.02.2025.
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