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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.

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Wahrscheinlicher Grund der Zurückhaltung Rußlands.
Kriegscontribution würde der russische Sieger günstiger stehn als
der deutsche, aber doch kaum auf seine Kosten kommen. Der Ge¬
danke an den Erwerb Ostpreußens, der im siebenjährigen Kriege
an das Licht trat, wird schwerlich noch Anhänger haben. Wenn
Rußland schon den deutschen Bestandtheil der Bevölkerung seiner
baltischen Provinzen nicht vertragen mag, so ist nicht anzunehmen,
daß seine Politik auf die Verstärkung dieser für gefährlich ge¬
haltenen Minderheit durch einen so kräftigen Zusatz wie den ost¬
preußischen ausgehn wird. Ebenso wenig erscheint dem russischen
Staatsmanne eine Vermehrung der polnischen Unterthanen des
Zaren durch Posen und Westpreußen begehrenswerth. Wenn man
Deutschland und Rußland isolirt betrachtet, so ist es schwer, auf
einer von beiden Seiten einen zwingenden oder auch nur berech¬
tigten Kriegsgrund zu finden. Lediglich zur Befriedigung der Rauf¬
lust oder zur Verhütung der Gefahren unbeschäftigter Heere kann
man vielleicht in einen Balkankrieg gehn; ein deutsch-russischer
aber wiegt zu schwer, um auf der einen oder andern Seite als
Mittel nur zur Beschäftigung der Armee und ihrer Offiziere ver¬
wendet zu werden.

Ich glaube auch nicht, daß Rußland, wenn es fertig ist, ohne
Weitres Oestreich angreifen würde, und bin noch heut der Mei¬
nung, daß die Truppenaufstellung im russischen Westen auf keine
direct aggressive Tendenz gegen Deutschland berechnet ist, sondern
nur auf die Vertheidigung im Falle, daß Rußlands Vorgehn gegen
die Türkei die westlichen Mächte zur Repression bestimmen sollte.
Wenn Rußland sich für ausreichend gerüstet halten wird, wozu
eine angemessene Stärke der Flotte im Schwarzen Meere gehört,
so wird, denke ich mir, das Petersburger Cabinet, ähnlich wie
es in dem Vertrage von Hunkiar-Iskelessi 1833 verfahren, dem
Sultan anbieten, ihm seine Stellung in Konstantinopel und den
ihm verbliebenen Provinzen zu garantiren, wenn er Rußland den
Schlüssel zum russischen Hause, d. h. zum Schwarzen Meere, in
der Gestalt eines russischen Verschlusses des Bosporus gewährt.

Wahrſcheinlicher Grund der Zurückhaltung Rußlands.
Kriegscontribution würde der ruſſiſche Sieger günſtiger ſtehn als
der deutſche, aber doch kaum auf ſeine Koſten kommen. Der Ge¬
danke an den Erwerb Oſtpreußens, der im ſiebenjährigen Kriege
an das Licht trat, wird ſchwerlich noch Anhänger haben. Wenn
Rußland ſchon den deutſchen Beſtandtheil der Bevölkerung ſeiner
baltiſchen Provinzen nicht vertragen mag, ſo iſt nicht anzunehmen,
daß ſeine Politik auf die Verſtärkung dieſer für gefährlich ge¬
haltenen Minderheit durch einen ſo kräftigen Zuſatz wie den oſt¬
preußiſchen ausgehn wird. Ebenſo wenig erſcheint dem ruſſiſchen
Staatsmanne eine Vermehrung der polniſchen Unterthanen des
Zaren durch Poſen und Weſtpreußen begehrenswerth. Wenn man
Deutſchland und Rußland iſolirt betrachtet, ſo iſt es ſchwer, auf
einer von beiden Seiten einen zwingenden oder auch nur berech¬
tigten Kriegsgrund zu finden. Lediglich zur Befriedigung der Rauf¬
luſt oder zur Verhütung der Gefahren unbeſchäftigter Heere kann
man vielleicht in einen Balkankrieg gehn; ein deutſch-ruſſiſcher
aber wiegt zu ſchwer, um auf der einen oder andern Seite als
Mittel nur zur Beſchäftigung der Armee und ihrer Offiziere ver¬
wendet zu werden.

Ich glaube auch nicht, daß Rußland, wenn es fertig iſt, ohne
Weitres Oeſtreich angreifen würde, und bin noch heut der Mei¬
nung, daß die Truppenaufſtellung im ruſſiſchen Weſten auf keine
direct aggreſſive Tendenz gegen Deutſchland berechnet iſt, ſondern
nur auf die Vertheidigung im Falle, daß Rußlands Vorgehn gegen
die Türkei die weſtlichen Mächte zur Repreſſion beſtimmen ſollte.
Wenn Rußland ſich für ausreichend gerüſtet halten wird, wozu
eine angemeſſene Stärke der Flotte im Schwarzen Meere gehört,
ſo wird, denke ich mir, das Petersburger Cabinet, ähnlich wie
es in dem Vertrage von Hunkiar-Iſkeleſſi 1833 verfahren, dem
Sultan anbieten, ihm ſeine Stellung in Konſtantinopel und den
ihm verbliebenen Provinzen zu garantiren, wenn er Rußland den
Schlüſſel zum ruſſiſchen Hauſe, d. h. zum Schwarzen Meere, in
der Geſtalt eines ruſſiſchen Verſchluſſes des Bosporus gewährt.

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[261/0285] Wahrſcheinlicher Grund der Zurückhaltung Rußlands. Kriegscontribution würde der ruſſiſche Sieger günſtiger ſtehn als der deutſche, aber doch kaum auf ſeine Koſten kommen. Der Ge¬ danke an den Erwerb Oſtpreußens, der im ſiebenjährigen Kriege an das Licht trat, wird ſchwerlich noch Anhänger haben. Wenn Rußland ſchon den deutſchen Beſtandtheil der Bevölkerung ſeiner baltiſchen Provinzen nicht vertragen mag, ſo iſt nicht anzunehmen, daß ſeine Politik auf die Verſtärkung dieſer für gefährlich ge¬ haltenen Minderheit durch einen ſo kräftigen Zuſatz wie den oſt¬ preußiſchen ausgehn wird. Ebenſo wenig erſcheint dem ruſſiſchen Staatsmanne eine Vermehrung der polniſchen Unterthanen des Zaren durch Poſen und Weſtpreußen begehrenswerth. Wenn man Deutſchland und Rußland iſolirt betrachtet, ſo iſt es ſchwer, auf einer von beiden Seiten einen zwingenden oder auch nur berech¬ tigten Kriegsgrund zu finden. Lediglich zur Befriedigung der Rauf¬ luſt oder zur Verhütung der Gefahren unbeſchäftigter Heere kann man vielleicht in einen Balkankrieg gehn; ein deutſch-ruſſiſcher aber wiegt zu ſchwer, um auf der einen oder andern Seite als Mittel nur zur Beſchäftigung der Armee und ihrer Offiziere ver¬ wendet zu werden. Ich glaube auch nicht, daß Rußland, wenn es fertig iſt, ohne Weitres Oeſtreich angreifen würde, und bin noch heut der Mei¬ nung, daß die Truppenaufſtellung im ruſſiſchen Weſten auf keine direct aggreſſive Tendenz gegen Deutſchland berechnet iſt, ſondern nur auf die Vertheidigung im Falle, daß Rußlands Vorgehn gegen die Türkei die weſtlichen Mächte zur Repreſſion beſtimmen ſollte. Wenn Rußland ſich für ausreichend gerüſtet halten wird, wozu eine angemeſſene Stärke der Flotte im Schwarzen Meere gehört, ſo wird, denke ich mir, das Petersburger Cabinet, ähnlich wie es in dem Vertrage von Hunkiar-Iſkeleſſi 1833 verfahren, dem Sultan anbieten, ihm ſeine Stellung in Konſtantinopel und den ihm verbliebenen Provinzen zu garantiren, wenn er Rußland den Schlüſſel zum ruſſiſchen Hauſe, d. h. zum Schwarzen Meere, in der Geſtalt eines ruſſiſchen Verſchluſſes des Bosporus gewährt.

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/285>, abgerufen am 21.11.2024.