Zeit aus dem abwartenden Stadium in das handelnde drängen lassen; wenn nicht, plectuntur Achivi.
Unsre Zurückhaltung kann vernünftiger Weise nicht den Zweck haben, über irgend einen unsrer Nachbarn oder möglichen Gegner mit geschonten Kräften herzufallen, nachdem die andern sich ge¬ schwächt hätten. Im Gegentheil sollten wir uns bemühn, die Verstimmungen, die unser Heranwachsen zu einer wirklichen Gro߬ macht hervorgerufen hat, durch den ehrlichen und friedliebenden Gebrauch unsrer Schwerkraft abzuschwächen, um die Welt zu über¬ zeugen, daß eine deutsche Hegemonie in Europa nützlicher und unparteiischer, auch unschädlicher für die Freiheit andrer wirkt als eine französische, russische oder englische. Die Achtung vor den Rechten andrer Staaten, an der namentlich Frankreich in den Zeiten seines Uebergewichts es hat fehlen lassen, und die in Eng¬ land doch nur so weit reicht, als die englischen Interessen nicht berührt werden, wird dem Deutschen Reiche und seiner Politik erleichtert, einerseits durch die Objectivität des deutschen Charakters, andrerseits durch die verdienstlose Thatsache, daß wir eine Ver¬ größerung unsres unmittelbaren Gebietes nicht brauchen, auch nicht herstellen könnten, ohne die centrifugalen Elemente im eignen Ge¬ biete zu stärken. Mein ideales Ziel, nachdem wir unsre Einheit innerhalb der erreichbaren Grenzen zu Stande gebracht hatten, ist stets gewesen, das Vertrauen nicht nur der mindermächtigen euro¬ päischen Staaten, sondern auch der großen Mächte zu erwerben, daß die deutsche Politik, nachdem sie die injuria temporum, die Zersplitterung der Nation, gut gemacht hat, friedliebend und gerecht sein will. Um dieses Vertrauen zu erzeugen, ist vor allen Dingen Ehrlichkeit, Offenheit und Versöhnlichkeit im Falle von Reibungen oder von untoward events nöthig. Ich habe dieses Recept nicht ohne Widerstreben meiner persönlichen Empfindlichkeiten befolgt in Fällen wie Schnäbele (April 1887), Boulanger, Kaufmann (Sep¬ tember 1887), Spanien gegenüber in der Carolinen-Frage, den Vereinigten Staaten gegenüber in Samoa, und vermuthe, daß die
Deutſchlands Aufgabe: den Frieden zu erhalten.
Zeit aus dem abwartenden Stadium in das handelnde drängen laſſen; wenn nicht, plectuntur Achivi.
Unſre Zurückhaltung kann vernünftiger Weiſe nicht den Zweck haben, über irgend einen unſrer Nachbarn oder möglichen Gegner mit geſchonten Kräften herzufallen, nachdem die andern ſich ge¬ ſchwächt hätten. Im Gegentheil ſollten wir uns bemühn, die Verſtimmungen, die unſer Heranwachſen zu einer wirklichen Gro߬ macht hervorgerufen hat, durch den ehrlichen und friedliebenden Gebrauch unſrer Schwerkraft abzuſchwächen, um die Welt zu über¬ zeugen, daß eine deutſche Hegemonie in Europa nützlicher und unparteiiſcher, auch unſchädlicher für die Freiheit andrer wirkt als eine franzöſiſche, ruſſiſche oder engliſche. Die Achtung vor den Rechten andrer Staaten, an der namentlich Frankreich in den Zeiten ſeines Uebergewichts es hat fehlen laſſen, und die in Eng¬ land doch nur ſo weit reicht, als die engliſchen Intereſſen nicht berührt werden, wird dem Deutſchen Reiche und ſeiner Politik erleichtert, einerſeits durch die Objectivität des deutſchen Charakters, andrerſeits durch die verdienſtloſe Thatſache, daß wir eine Ver¬ größerung unſres unmittelbaren Gebietes nicht brauchen, auch nicht herſtellen könnten, ohne die centrifugalen Elemente im eignen Ge¬ biete zu ſtärken. Mein ideales Ziel, nachdem wir unſre Einheit innerhalb der erreichbaren Grenzen zu Stande gebracht hatten, iſt ſtets geweſen, das Vertrauen nicht nur der mindermächtigen euro¬ päiſchen Staaten, ſondern auch der großen Mächte zu erwerben, daß die deutſche Politik, nachdem ſie die injuria temporum, die Zerſplitterung der Nation, gut gemacht hat, friedliebend und gerecht ſein will. Um dieſes Vertrauen zu erzeugen, iſt vor allen Dingen Ehrlichkeit, Offenheit und Verſöhnlichkeit im Falle von Reibungen oder von untoward events nöthig. Ich habe dieſes Recept nicht ohne Widerſtreben meiner perſönlichen Empfindlichkeiten befolgt in Fällen wie Schnäbele (April 1887), Boulanger, Kaufmann (Sep¬ tember 1887), Spanien gegenüber in der Carolinen-Frage, den Vereinigten Staaten gegenüber in Samoa, und vermuthe, daß die
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Deutſchlands Aufgabe: den Frieden zu erhalten.
Zeit aus dem abwartenden Stadium in das handelnde drängen
laſſen; wenn nicht, plectuntur Achivi.
Unſre Zurückhaltung kann vernünftiger Weiſe nicht den Zweck
haben, über irgend einen unſrer Nachbarn oder möglichen Gegner
mit geſchonten Kräften herzufallen, nachdem die andern ſich ge¬
ſchwächt hätten. Im Gegentheil ſollten wir uns bemühn, die
Verſtimmungen, die unſer Heranwachſen zu einer wirklichen Gro߬
macht hervorgerufen hat, durch den ehrlichen und friedliebenden
Gebrauch unſrer Schwerkraft abzuſchwächen, um die Welt zu über¬
zeugen, daß eine deutſche Hegemonie in Europa nützlicher und
unparteiiſcher, auch unſchädlicher für die Freiheit andrer wirkt als
eine franzöſiſche, ruſſiſche oder engliſche. Die Achtung vor den
Rechten andrer Staaten, an der namentlich Frankreich in den
Zeiten ſeines Uebergewichts es hat fehlen laſſen, und die in Eng¬
land doch nur ſo weit reicht, als die engliſchen Intereſſen nicht
berührt werden, wird dem Deutſchen Reiche und ſeiner Politik
erleichtert, einerſeits durch die Objectivität des deutſchen Charakters,
andrerſeits durch die verdienſtloſe Thatſache, daß wir eine Ver¬
größerung unſres unmittelbaren Gebietes nicht brauchen, auch nicht
herſtellen könnten, ohne die centrifugalen Elemente im eignen Ge¬
biete zu ſtärken. Mein ideales Ziel, nachdem wir unſre Einheit
innerhalb der erreichbaren Grenzen zu Stande gebracht hatten, iſt
ſtets geweſen, das Vertrauen nicht nur der mindermächtigen euro¬
päiſchen Staaten, ſondern auch der großen Mächte zu erwerben,
daß die deutſche Politik, nachdem ſie die injuria temporum, die
Zerſplitterung der Nation, gut gemacht hat, friedliebend und gerecht
ſein will. Um dieſes Vertrauen zu erzeugen, iſt vor allen Dingen
Ehrlichkeit, Offenheit und Verſöhnlichkeit im Falle von Reibungen
oder von untoward events nöthig. Ich habe dieſes Recept nicht
ohne Widerſtreben meiner perſönlichen Empfindlichkeiten befolgt in
Fällen wie Schnäbele (April 1887), Boulanger, Kaufmann (Sep¬
tember 1887), Spanien gegenüber in der Carolinen-Frage, den
Vereinigten Staaten gegenüber in Samoa, und vermuthe, daß die
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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/291>, abgerufen am 17.06.2024.
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