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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.

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Dreißigstes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands.
essirten Mächte. Wie das schwächere Preußen schon während des
Krimkrieges Momente hatte, in denen es bei entschlossener Rüstung
im Sinne östreichischer Forderungen und über dieselben hinaus
den Frieden gebieten und sein Verständniß mit Oestreich über
deutsche Fragen fördern konnte, so wird auch Deutschland in zu¬
künftigen orientalischen Händeln, wenn es sich zurückzuhalten weiß,
den Vortheil, daß es die in orientalischen Fragen am wenigsten inter¬
essirte Macht ist, um so sichrer verwerthen können, je länger es seinen
Einsatz zurückhält, auch wenn dieser Vortheil nur in längerem Genusse
des Friedens bestände. Oestreich, England, Italien werden einem
russischen Vorstoße auf Konstantinopel gegenüber immer früher
Stellung zu nehmen haben als die Franzosen, weil die orientalischen
Interessen Frankreichs weniger zwingend und mehr im Zusammen¬
hange mit der deutschen Grenzfrage zu denken sind. Frankreich
würde in russisch-orientalischen Krisen weder auf eine neue "west¬
mächtliche" Politik, noch um seiner Freundschaft mit Rußland willen
auf eine Bedrohung Englands sich einlassen können, ohne vorgängige
Verständigung oder vorgängigen Bruch mit Deutschland.

Dem Vortheile, den der deutschen Politik ihre Freiheit von
directen orientalischen Interessen gewährt, steht der Nachtheil der
centralen und exponirten Lage des Deutschen Reiches mit seinen
ausgedehnten Vertheidigungsfronten nach allen Seiten hin und die
Leichtigkeit antideutscher Coalitionen gegenüber. Dabei ist Deutsch¬
land vielleicht die einzige große Macht in Europa, die durch
keine Ziele, die nur durch siegreiche Kriege zu erreichen wären, in
Versuchung geführt wird. Unser Interesse ist, den Frieden zu er¬
halten, während unsre continentalen Nachbarn ohne Ausnahme
Wünsche haben, geheime oder amtlich bekannte, die nur durch Krieg
zu erfüllen sind. Dementsprechend müssen wir unsre Politik ein¬
richten, das heißt den Krieg nach Möglichkeit hindern oder ein¬
schränken, uns in dem europäischen Kartenspiele die Hinterhand
wahren und uns durch keine Ungeduld, keine Gefälligkeit auf Kosten
des Landes, keine Eitelkeit oder befreundete Provocation vor der

Dreißigſtes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands.
eſſirten Mächte. Wie das ſchwächere Preußen ſchon während des
Krimkrieges Momente hatte, in denen es bei entſchloſſener Rüſtung
im Sinne öſtreichiſcher Forderungen und über dieſelben hinaus
den Frieden gebieten und ſein Verſtändniß mit Oeſtreich über
deutſche Fragen fördern konnte, ſo wird auch Deutſchland in zu¬
künftigen orientaliſchen Händeln, wenn es ſich zurückzuhalten weiß,
den Vortheil, daß es die in orientaliſchen Fragen am wenigſten inter¬
eſſirte Macht iſt, um ſo ſichrer verwerthen können, je länger es ſeinen
Einſatz zurückhält, auch wenn dieſer Vortheil nur in längerem Genuſſe
des Friedens beſtände. Oeſtreich, England, Italien werden einem
ruſſiſchen Vorſtoße auf Konſtantinopel gegenüber immer früher
Stellung zu nehmen haben als die Franzoſen, weil die orientaliſchen
Intereſſen Frankreichs weniger zwingend und mehr im Zuſammen¬
hange mit der deutſchen Grenzfrage zu denken ſind. Frankreich
würde in ruſſiſch-orientaliſchen Kriſen weder auf eine neue „weſt¬
mächtliche“ Politik, noch um ſeiner Freundſchaft mit Rußland willen
auf eine Bedrohung Englands ſich einlaſſen können, ohne vorgängige
Verſtändigung oder vorgängigen Bruch mit Deutſchland.

Dem Vortheile, den der deutſchen Politik ihre Freiheit von
directen orientaliſchen Intereſſen gewährt, ſteht der Nachtheil der
centralen und exponirten Lage des Deutſchen Reiches mit ſeinen
ausgedehnten Vertheidigungsfronten nach allen Seiten hin und die
Leichtigkeit antideutſcher Coalitionen gegenüber. Dabei iſt Deutſch¬
land vielleicht die einzige große Macht in Europa, die durch
keine Ziele, die nur durch ſiegreiche Kriege zu erreichen wären, in
Verſuchung geführt wird. Unſer Intereſſe iſt, den Frieden zu er¬
halten, während unſre continentalen Nachbarn ohne Ausnahme
Wünſche haben, geheime oder amtlich bekannte, die nur durch Krieg
zu erfüllen ſind. Dementſprechend müſſen wir unſre Politik ein¬
richten, das heißt den Krieg nach Möglichkeit hindern oder ein¬
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[266/0290] Dreißigſtes Kapitel: Zukünftige Politik Rußlands. eſſirten Mächte. Wie das ſchwächere Preußen ſchon während des Krimkrieges Momente hatte, in denen es bei entſchloſſener Rüſtung im Sinne öſtreichiſcher Forderungen und über dieſelben hinaus den Frieden gebieten und ſein Verſtändniß mit Oeſtreich über deutſche Fragen fördern konnte, ſo wird auch Deutſchland in zu¬ künftigen orientaliſchen Händeln, wenn es ſich zurückzuhalten weiß, den Vortheil, daß es die in orientaliſchen Fragen am wenigſten inter¬ eſſirte Macht iſt, um ſo ſichrer verwerthen können, je länger es ſeinen Einſatz zurückhält, auch wenn dieſer Vortheil nur in längerem Genuſſe des Friedens beſtände. Oeſtreich, England, Italien werden einem ruſſiſchen Vorſtoße auf Konſtantinopel gegenüber immer früher Stellung zu nehmen haben als die Franzoſen, weil die orientaliſchen Intereſſen Frankreichs weniger zwingend und mehr im Zuſammen¬ hange mit der deutſchen Grenzfrage zu denken ſind. Frankreich würde in ruſſiſch-orientaliſchen Kriſen weder auf eine neue „weſt¬ mächtliche“ Politik, noch um ſeiner Freundſchaft mit Rußland willen auf eine Bedrohung Englands ſich einlaſſen können, ohne vorgängige Verſtändigung oder vorgängigen Bruch mit Deutſchland. Dem Vortheile, den der deutſchen Politik ihre Freiheit von directen orientaliſchen Intereſſen gewährt, ſteht der Nachtheil der centralen und exponirten Lage des Deutſchen Reiches mit ſeinen ausgedehnten Vertheidigungsfronten nach allen Seiten hin und die Leichtigkeit antideutſcher Coalitionen gegenüber. Dabei iſt Deutſch¬ land vielleicht die einzige große Macht in Europa, die durch keine Ziele, die nur durch ſiegreiche Kriege zu erreichen wären, in Verſuchung geführt wird. Unſer Intereſſe iſt, den Frieden zu er¬ halten, während unſre continentalen Nachbarn ohne Ausnahme Wünſche haben, geheime oder amtlich bekannte, die nur durch Krieg zu erfüllen ſind. Dementſprechend müſſen wir unſre Politik ein¬ richten, das heißt den Krieg nach Möglichkeit hindern oder ein¬ ſchränken, uns in dem europäiſchen Kartenſpiele die Hinterhand wahren und uns durch keine Ungeduld, keine Gefälligkeit auf Koſten des Landes, keine Eitelkeit oder befreundete Provocation vor der

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/290>, abgerufen am 21.11.2024.