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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.

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Bedenklichkeit der Lage. Der Appell an Ungarn.
anstatt der frühern, schüchternen und zwiespältigen entgegengetreten,
der wir vorwärts Berlin keine gleichwerthigen Streitkräfte gegen¬
überzustellen hatten, ohne Wien gegenüber zu schwach zu werden.
Mainz war von Bundestruppen unter dem Befehl des bairischen
Generals Grafen Rechberg besetzt; wären die Franzosen einmal
darin gewesen, so würde es harte Arbeit gekostet haben, sie daraus
zu entfernen.

Unter dem Druck der französischen Intervention und zu einer
Zeit, als es sich noch nicht übersehn ließ, ob es gelingen werde, sie auf
dem diplomatischen Gebiete festzuhalten, entschloß ich mich, dem Könige
den Appell an die ungarische Nationalität anzurathen. Wenn Napoleon
in der angedeuteten Weise in den Krieg eingriff, Rußlands Haltung
zweifelhaft blieb, namentlich aber die Cholera in unsrer Armee
weitre Fortschritte machte, so konnte unsre Lage eine so schwierige
werden, daß wir zu jeder Waffe, die uns die entfesselte nationale
Bewegung nicht nur in Deutschland, sondern auch in Ungarn und
Böhmen darbieten konnte, greifen mußten, um nicht zu unterliegen*).

II.

Am 12. Juli fand in dem Marschquartier Czernahora Kriegs¬
rath, oder, wie die Militärs die Sache genannt haben wollen,
Generalsvortrag Statt -- ich behalte der Kürze und des allgemeinen
Verständnisses wegen den erstern auch von Roon1) gebrauchten
Ausdruck bei, obwohl der Feldmarschall Moltke in einem dem
Professor von Treitschke am 9. Mai 1881 übergebenen Aufsatze
bemerkt hat, daß in beiden Kriegen niemals Kriegsrath gehalten
worden sei2). Zu diesen unter dem Vorsitz des Königs gehaltenen

*) In dem Briefe an seine Gemalin vom 7. Februar 1871 (Denkwürdig¬
keiten III4 297).
1) Vgl. die Aeußerung in der Rede vom 16. Januar 1874, Politische
Reden VI 140.
2) Vgl. Moltke, Gesammelte Schriften III 415 ff.

Bedenklichkeit der Lage. Der Appell an Ungarn.
anſtatt der frühern, ſchüchternen und zwieſpältigen entgegengetreten,
der wir vorwärts Berlin keine gleichwerthigen Streitkräfte gegen¬
überzuſtellen hatten, ohne Wien gegenüber zu ſchwach zu werden.
Mainz war von Bundestruppen unter dem Befehl des bairiſchen
Generals Grafen Rechberg beſetzt; wären die Franzoſen einmal
darin geweſen, ſo würde es harte Arbeit gekoſtet haben, ſie daraus
zu entfernen.

Unter dem Druck der franzöſiſchen Intervention und zu einer
Zeit, als es ſich noch nicht überſehn ließ, ob es gelingen werde, ſie auf
dem diplomatiſchen Gebiete feſtzuhalten, entſchloß ich mich, dem Könige
den Appell an die ungariſche Nationalität anzurathen. Wenn Napoleon
in der angedeuteten Weiſe in den Krieg eingriff, Rußlands Haltung
zweifelhaft blieb, namentlich aber die Cholera in unſrer Armee
weitre Fortſchritte machte, ſo konnte unſre Lage eine ſo ſchwierige
werden, daß wir zu jeder Waffe, die uns die entfeſſelte nationale
Bewegung nicht nur in Deutſchland, ſondern auch in Ungarn und
Böhmen darbieten konnte, greifen mußten, um nicht zu unterliegen*).

II.

Am 12. Juli fand in dem Marſchquartier Czernahora Kriegs¬
rath, oder, wie die Militärs die Sache genannt haben wollen,
Generalsvortrag Statt — ich behalte der Kürze und des allgemeinen
Verſtändniſſes wegen den erſtern auch von Roon1) gebrauchten
Ausdruck bei, obwohl der Feldmarſchall Moltke in einem dem
Profeſſor von Treitſchke am 9. Mai 1881 übergebenen Aufſatze
bemerkt hat, daß in beiden Kriegen niemals Kriegsrath gehalten
worden ſei2). Zu dieſen unter dem Vorſitz des Königs gehaltenen

*) In dem Briefe an ſeine Gemalin vom 7. Februar 1871 (Denkwürdig¬
keiten III4 297).
1) Vgl. die Aeußerung in der Rede vom 16. Januar 1874, Politiſche
Reden VI 140.
2) Vgl. Moltke, Geſammelte Schriften III 415 ff.
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[35/0059] Bedenklichkeit der Lage. Der Appell an Ungarn. anſtatt der frühern, ſchüchternen und zwieſpältigen entgegengetreten, der wir vorwärts Berlin keine gleichwerthigen Streitkräfte gegen¬ überzuſtellen hatten, ohne Wien gegenüber zu ſchwach zu werden. Mainz war von Bundestruppen unter dem Befehl des bairiſchen Generals Grafen Rechberg beſetzt; wären die Franzoſen einmal darin geweſen, ſo würde es harte Arbeit gekoſtet haben, ſie daraus zu entfernen. Unter dem Druck der franzöſiſchen Intervention und zu einer Zeit, als es ſich noch nicht überſehn ließ, ob es gelingen werde, ſie auf dem diplomatiſchen Gebiete feſtzuhalten, entſchloß ich mich, dem Könige den Appell an die ungariſche Nationalität anzurathen. Wenn Napoleon in der angedeuteten Weiſe in den Krieg eingriff, Rußlands Haltung zweifelhaft blieb, namentlich aber die Cholera in unſrer Armee weitre Fortſchritte machte, ſo konnte unſre Lage eine ſo ſchwierige werden, daß wir zu jeder Waffe, die uns die entfeſſelte nationale Bewegung nicht nur in Deutſchland, ſondern auch in Ungarn und Böhmen darbieten konnte, greifen mußten, um nicht zu unterliegen *). II. Am 12. Juli fand in dem Marſchquartier Czernahora Kriegs¬ rath, oder, wie die Militärs die Sache genannt haben wollen, Generalsvortrag Statt — ich behalte der Kürze und des allgemeinen Verſtändniſſes wegen den erſtern auch von Roon 1) gebrauchten Ausdruck bei, obwohl der Feldmarſchall Moltke in einem dem Profeſſor von Treitſchke am 9. Mai 1881 übergebenen Aufſatze bemerkt hat, daß in beiden Kriegen niemals Kriegsrath gehalten worden ſei 2). Zu dieſen unter dem Vorſitz des Königs gehaltenen *) In dem Briefe an ſeine Gemalin vom 7. Februar 1871 (Denkwürdig¬ keiten III4 297). 1) Vgl. die Aeußerung in der Rede vom 16. Januar 1874, Politiſche Reden VI 140. 2) Vgl. Moltke, Geſammelte Schriften III 415 ff.

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/59>, abgerufen am 27.11.2024.