Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.

Bild:
<< vorherige Seite

Zwanzigstes Kapitel: Nikolsburg.
mündlichen Vortrag. Im Vorzimmer fand ich zwei Obersten mit
Berichten über das Umsichgreifen der Cholera unter ihren Leuten,
von denen kaum die Hälfte dienstfähig war*). Die erschreckenden
Zahlen befestigten meinen Entschluß, aus dem Eingehn auf die
östreichischen Bedingungen die Cabinetsfrage zu machen. Ich be¬
fürchtete neben politischen Sorgen, daß bei Verlegung der Opera¬
tionen nach Ungarn die mir bekannte Beschaffenheit dieses Landes
die Krankheit schnell übermächtig machen würde. Das Klima,
besonders im August, ist gefährlich, der Wassermangel groß, die
ländlichen Ortschaften mit Feldmarken von mehren Quadratmeilen
weit verstreut, dazu Reichthum an Pflaumen und Melonen. Mir
schwebte als warnendes Beispiel unser Feldzug von 1792 in der
Champagne vor, wo wir nicht durch die Franzosen, sondern durch
die Ruhr zum Rückzug gezwungen wurden.

Ich entwickelte dem Könige an der Hand meines Schriftstücks
die politischen und militärischen Gründe, die gegen die Fort¬
setzung des Krieges sprachen.

Oestreich schwer zu verwunden, dauernde Bitterkeit und
Revanchebedürfniß mehr als nöthig zu hinterlassen, mußten wir
vermeiden, vielmehr uns die Möglichkeit, uns mit dem heutigen
Gegner wieder zu befreunden, wahren und jedenfalls den öst¬
reichischen Staat als einen Stein im europäischen Schachbrett und
die Erneuerung guter Beziehungen mit demselben als einen für
uns offen zu haltenden Schachzug ansehn. Wenn Oestreich schwer
geschädigt wäre, so würde es der Bundesgenosse Frankreichs und
jedes Gegners werden; es würde selbst seine antirussischen Inter¬
essen der Revanche gegen Preußen opfern.

Auf der andern Seite könnte ich mir keine für uns annehm¬
bare Zukunft der Länder, welche die östreichische Monarchie bildeten,
denken, falls letztre durch ungarische und slavische Aufstände zer¬
stört oder in dauernde Abhängigkeit versetzt werden sollte. Was

*) Während des Feldzuges sind 6427 Mann der Seuche erlegen.

Zwanzigſtes Kapitel: Nikolsburg.
mündlichen Vortrag. Im Vorzimmer fand ich zwei Oberſten mit
Berichten über das Umſichgreifen der Cholera unter ihren Leuten,
von denen kaum die Hälfte dienſtfähig war*). Die erſchreckenden
Zahlen befeſtigten meinen Entſchluß, aus dem Eingehn auf die
öſtreichiſchen Bedingungen die Cabinetsfrage zu machen. Ich be¬
fürchtete neben politiſchen Sorgen, daß bei Verlegung der Opera¬
tionen nach Ungarn die mir bekannte Beſchaffenheit dieſes Landes
die Krankheit ſchnell übermächtig machen würde. Das Klima,
beſonders im Auguſt, iſt gefährlich, der Waſſermangel groß, die
ländlichen Ortſchaften mit Feldmarken von mehren Quadratmeilen
weit verſtreut, dazu Reichthum an Pflaumen und Melonen. Mir
ſchwebte als warnendes Beiſpiel unſer Feldzug von 1792 in der
Champagne vor, wo wir nicht durch die Franzoſen, ſondern durch
die Ruhr zum Rückzug gezwungen wurden.

Ich entwickelte dem Könige an der Hand meines Schriftſtücks
die politiſchen und militäriſchen Gründe, die gegen die Fort¬
ſetzung des Krieges ſprachen.

Oeſtreich ſchwer zu verwunden, dauernde Bitterkeit und
Revanchebedürfniß mehr als nöthig zu hinterlaſſen, mußten wir
vermeiden, vielmehr uns die Möglichkeit, uns mit dem heutigen
Gegner wieder zu befreunden, wahren und jedenfalls den öſt¬
reichiſchen Staat als einen Stein im europäiſchen Schachbrett und
die Erneuerung guter Beziehungen mit demſelben als einen für
uns offen zu haltenden Schachzug anſehn. Wenn Oeſtreich ſchwer
geſchädigt wäre, ſo würde es der Bundesgenoſſe Frankreichs und
jedes Gegners werden; es würde ſelbſt ſeine antiruſſiſchen Inter¬
eſſen der Revanche gegen Preußen opfern.

Auf der andern Seite könnte ich mir keine für uns annehm¬
bare Zukunft der Länder, welche die öſtreichiſche Monarchie bildeten,
denken, falls letztre durch ungariſche und ſlaviſche Aufſtände zer¬
ſtört oder in dauernde Abhängigkeit verſetzt werden ſollte. Was

*) Während des Feldzuges ſind 6427 Mann der Seuche erlegen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0068" n="44"/><fw place="top" type="header">Zwanzig&#x017F;tes Kapitel: Nikolsburg.<lb/></fw>mündlichen Vortrag. Im Vorzimmer fand ich zwei Ober&#x017F;ten mit<lb/>
Berichten über das Um&#x017F;ichgreifen der Cholera unter ihren Leuten,<lb/>
von denen kaum die Hälfte dien&#x017F;tfähig war<note place="foot" n="*)">Während des Feldzuges &#x017F;ind 6427 Mann der Seuche erlegen.</note>. Die er&#x017F;chreckenden<lb/>
Zahlen befe&#x017F;tigten meinen Ent&#x017F;chluß, aus dem Eingehn auf die<lb/>
ö&#x017F;treichi&#x017F;chen Bedingungen die Cabinetsfrage zu machen. Ich be¬<lb/>
fürchtete neben politi&#x017F;chen Sorgen, daß bei Verlegung der Opera¬<lb/>
tionen nach Ungarn die mir bekannte Be&#x017F;chaffenheit die&#x017F;es Landes<lb/>
die Krankheit &#x017F;chnell übermächtig machen würde. Das Klima,<lb/>
be&#x017F;onders im Augu&#x017F;t, i&#x017F;t gefährlich, der Wa&#x017F;&#x017F;ermangel groß, die<lb/>
ländlichen Ort&#x017F;chaften mit Feldmarken von mehren Quadratmeilen<lb/>
weit ver&#x017F;treut, dazu Reichthum an Pflaumen und Melonen. Mir<lb/>
&#x017F;chwebte als warnendes Bei&#x017F;piel un&#x017F;er Feldzug von 1792 in der<lb/>
Champagne vor, wo wir nicht durch die Franzo&#x017F;en, &#x017F;ondern durch<lb/>
die Ruhr zum Rückzug gezwungen wurden.</p><lb/>
          <p>Ich entwickelte dem Könige an der Hand meines Schrift&#x017F;tücks<lb/>
die politi&#x017F;chen und militäri&#x017F;chen Gründe, die gegen die Fort¬<lb/>
&#x017F;etzung des Krieges &#x017F;prachen.</p><lb/>
          <p>Oe&#x017F;treich &#x017F;chwer zu verwunden, dauernde Bitterkeit und<lb/>
Revanchebedürfniß mehr als nöthig zu hinterla&#x017F;&#x017F;en, mußten wir<lb/>
vermeiden, vielmehr uns die Möglichkeit, uns mit dem heutigen<lb/>
Gegner wieder zu befreunden, wahren und jedenfalls den ö&#x017F;<lb/>
reichi&#x017F;chen Staat als einen Stein im europäi&#x017F;chen Schachbrett und<lb/>
die Erneuerung guter Beziehungen mit dem&#x017F;elben als einen für<lb/>
uns offen zu haltenden Schachzug an&#x017F;ehn. Wenn Oe&#x017F;treich &#x017F;chwer<lb/>
ge&#x017F;chädigt wäre, &#x017F;o würde es der Bundesgeno&#x017F;&#x017F;e Frankreichs und<lb/>
jedes Gegners werden; es würde &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;eine antiru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Inter¬<lb/>
e&#x017F;&#x017F;en der Revanche gegen Preußen opfern.</p><lb/>
          <p>Auf der andern Seite könnte ich mir keine für uns annehm¬<lb/>
bare Zukunft der Länder, welche die ö&#x017F;treichi&#x017F;che Monarchie bildeten,<lb/>
denken, falls letztre durch ungari&#x017F;che und &#x017F;lavi&#x017F;che Auf&#x017F;tände zer¬<lb/>
&#x017F;tört oder in dauernde Abhängigkeit ver&#x017F;etzt werden &#x017F;ollte. Was<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[44/0068] Zwanzigſtes Kapitel: Nikolsburg. mündlichen Vortrag. Im Vorzimmer fand ich zwei Oberſten mit Berichten über das Umſichgreifen der Cholera unter ihren Leuten, von denen kaum die Hälfte dienſtfähig war *). Die erſchreckenden Zahlen befeſtigten meinen Entſchluß, aus dem Eingehn auf die öſtreichiſchen Bedingungen die Cabinetsfrage zu machen. Ich be¬ fürchtete neben politiſchen Sorgen, daß bei Verlegung der Opera¬ tionen nach Ungarn die mir bekannte Beſchaffenheit dieſes Landes die Krankheit ſchnell übermächtig machen würde. Das Klima, beſonders im Auguſt, iſt gefährlich, der Waſſermangel groß, die ländlichen Ortſchaften mit Feldmarken von mehren Quadratmeilen weit verſtreut, dazu Reichthum an Pflaumen und Melonen. Mir ſchwebte als warnendes Beiſpiel unſer Feldzug von 1792 in der Champagne vor, wo wir nicht durch die Franzoſen, ſondern durch die Ruhr zum Rückzug gezwungen wurden. Ich entwickelte dem Könige an der Hand meines Schriftſtücks die politiſchen und militäriſchen Gründe, die gegen die Fort¬ ſetzung des Krieges ſprachen. Oeſtreich ſchwer zu verwunden, dauernde Bitterkeit und Revanchebedürfniß mehr als nöthig zu hinterlaſſen, mußten wir vermeiden, vielmehr uns die Möglichkeit, uns mit dem heutigen Gegner wieder zu befreunden, wahren und jedenfalls den öſt¬ reichiſchen Staat als einen Stein im europäiſchen Schachbrett und die Erneuerung guter Beziehungen mit demſelben als einen für uns offen zu haltenden Schachzug anſehn. Wenn Oeſtreich ſchwer geſchädigt wäre, ſo würde es der Bundesgenoſſe Frankreichs und jedes Gegners werden; es würde ſelbſt ſeine antiruſſiſchen Inter¬ eſſen der Revanche gegen Preußen opfern. Auf der andern Seite könnte ich mir keine für uns annehm¬ bare Zukunft der Länder, welche die öſtreichiſche Monarchie bildeten, denken, falls letztre durch ungariſche und ſlaviſche Aufſtände zer¬ ſtört oder in dauernde Abhängigkeit verſetzt werden ſollte. Was *) Während des Feldzuges ſind 6427 Mann der Seuche erlegen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/68
Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/68>, abgerufen am 26.11.2024.