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Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898.

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Einundzwanzigstes Kapitel: Der Norddeutsche Bund.
wicklung gelegen hätte. Dazu wäre vor Allem erforderlich gewesen,
daß er nicht mit der, unklugerweise noch immer von der öffent¬
lichen Meinung verurtheilten russischen Assistenz geführt wurde.
Die deutsche Einheit mußte ohne fremde Einflüsse zu Stande
kommen, aus eigner nationaler Kraft. Ueberdies hatte der innere
Conflict, von dem der König bei meinem Eintritt in das Mini¬
sterium bis zu dem Entschlusse zur Abdication beeindruckt war,
an Herrschaft über seine Entschließungen erheblich eingebüßt, seit¬
dem er Minister gefunden hatte, die bereit waren, seine Politik offen,
ohne Winkelzüge zu vertreten. Er hatte seitdem die Ueberzeugung
gewonnen, daß die Krone, wenn es zum revolutionären Bruche ge¬
kommen wäre, stärker gewesen sein würde; die Einschüchterungen der
Königin und der Minister der neuen Aera hatten ihre Kraft ver¬
loren. Dagegen hielt ich in meinen Vorträgen mit meiner Ansicht
von der militärischen Stärke, die ein deutsch-russisches Bündniß,
namentlich im ersten Anlauf haben würde, nicht zurück.

Die geographische Lage der drei großen Ostmächte ist der Art,
daß eine jede von ihnen, sobald sie von den beiden andern ange¬
griffen wird, sich strategisch im Nachtheil befindet, auch wenn sie in
Westeuropa England oder Frankreich zum Verbündeten hat. Am
meisten würde Oestreich, isolirt, gegen einen russisch-deutschen Angriff
im Nachtheil sein, am wenigsten Rußland gegen Oestreich und Deutsch¬
land; aber auch Rußland würde bei einem concentrischen Vorstoß
der beiden deutschen Mächte gegen den Bug zu Anfang des Krieges
in einer schwierigen Lage sein. Bei seiner geographischen Lage
und ethnographischen Gestaltung ist Oestreich im Kampfe gegen
die beiden benachbarten Kaiserreiche deshalb sehr im Nachtheil,
weil die französische Hülfe kaum rechtzeitig eintreffen würde, um
das Gleichgewicht herzustellen. Wäre aber Oestreich einer deutsch-
russischen Coalition von Hause aus unterlegen, wäre durch einen
klugen Friedensschluß der drei Kaiser unter sich das gegnerische
Bündniß gesprengt oder auch nur durch eine Niederlage Oestreichs
geschwächt, so wäre das deutsch-russische Uebergewicht entscheidend.

Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund.
wicklung gelegen hätte. Dazu wäre vor Allem erforderlich geweſen,
daß er nicht mit der, unklugerweiſe noch immer von der öffent¬
lichen Meinung verurtheilten ruſſiſchen Aſſiſtenz geführt wurde.
Die deutſche Einheit mußte ohne fremde Einflüſſe zu Stande
kommen, aus eigner nationaler Kraft. Ueberdies hatte der innere
Conflict, von dem der König bei meinem Eintritt in das Mini¬
ſterium bis zu dem Entſchluſſe zur Abdication beeindruckt war,
an Herrſchaft über ſeine Entſchließungen erheblich eingebüßt, ſeit¬
dem er Miniſter gefunden hatte, die bereit waren, ſeine Politik offen,
ohne Winkelzüge zu vertreten. Er hatte ſeitdem die Ueberzeugung
gewonnen, daß die Krone, wenn es zum revolutionären Bruche ge¬
kommen wäre, ſtärker geweſen ſein würde; die Einſchüchterungen der
Königin und der Miniſter der neuen Aera hatten ihre Kraft ver¬
loren. Dagegen hielt ich in meinen Vorträgen mit meiner Anſicht
von der militäriſchen Stärke, die ein deutſch-ruſſiſches Bündniß,
namentlich im erſten Anlauf haben würde, nicht zurück.

Die geographiſche Lage der drei großen Oſtmächte iſt der Art,
daß eine jede von ihnen, ſobald ſie von den beiden andern ange¬
griffen wird, ſich ſtrategiſch im Nachtheil befindet, auch wenn ſie in
Weſteuropa England oder Frankreich zum Verbündeten hat. Am
meiſten würde Oeſtreich, iſolirt, gegen einen ruſſiſch-deutſchen Angriff
im Nachtheil ſein, am wenigſten Rußland gegen Oeſtreich und Deutſch¬
land; aber auch Rußland würde bei einem concentriſchen Vorſtoß
der beiden deutſchen Mächte gegen den Bug zu Anfang des Krieges
in einer ſchwierigen Lage ſein. Bei ſeiner geographiſchen Lage
und ethnographiſchen Geſtaltung iſt Oeſtreich im Kampfe gegen
die beiden benachbarten Kaiſerreiche deshalb ſehr im Nachtheil,
weil die franzöſiſche Hülfe kaum rechtzeitig eintreffen würde, um
das Gleichgewicht herzuſtellen. Wäre aber Oeſtreich einer deutſch-
ruſſiſchen Coalition von Hauſe aus unterlegen, wäre durch einen
klugen Friedensſchluß der drei Kaiſer unter ſich das gegneriſche
Bündniß geſprengt oder auch nur durch eine Niederlage Oeſtreichs
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[64/0088] Einundzwanzigſtes Kapitel: Der Norddeutſche Bund. wicklung gelegen hätte. Dazu wäre vor Allem erforderlich geweſen, daß er nicht mit der, unklugerweiſe noch immer von der öffent¬ lichen Meinung verurtheilten ruſſiſchen Aſſiſtenz geführt wurde. Die deutſche Einheit mußte ohne fremde Einflüſſe zu Stande kommen, aus eigner nationaler Kraft. Ueberdies hatte der innere Conflict, von dem der König bei meinem Eintritt in das Mini¬ ſterium bis zu dem Entſchluſſe zur Abdication beeindruckt war, an Herrſchaft über ſeine Entſchließungen erheblich eingebüßt, ſeit¬ dem er Miniſter gefunden hatte, die bereit waren, ſeine Politik offen, ohne Winkelzüge zu vertreten. Er hatte ſeitdem die Ueberzeugung gewonnen, daß die Krone, wenn es zum revolutionären Bruche ge¬ kommen wäre, ſtärker geweſen ſein würde; die Einſchüchterungen der Königin und der Miniſter der neuen Aera hatten ihre Kraft ver¬ loren. Dagegen hielt ich in meinen Vorträgen mit meiner Anſicht von der militäriſchen Stärke, die ein deutſch-ruſſiſches Bündniß, namentlich im erſten Anlauf haben würde, nicht zurück. Die geographiſche Lage der drei großen Oſtmächte iſt der Art, daß eine jede von ihnen, ſobald ſie von den beiden andern ange¬ griffen wird, ſich ſtrategiſch im Nachtheil befindet, auch wenn ſie in Weſteuropa England oder Frankreich zum Verbündeten hat. Am meiſten würde Oeſtreich, iſolirt, gegen einen ruſſiſch-deutſchen Angriff im Nachtheil ſein, am wenigſten Rußland gegen Oeſtreich und Deutſch¬ land; aber auch Rußland würde bei einem concentriſchen Vorſtoß der beiden deutſchen Mächte gegen den Bug zu Anfang des Krieges in einer ſchwierigen Lage ſein. Bei ſeiner geographiſchen Lage und ethnographiſchen Geſtaltung iſt Oeſtreich im Kampfe gegen die beiden benachbarten Kaiſerreiche deshalb ſehr im Nachtheil, weil die franzöſiſche Hülfe kaum rechtzeitig eintreffen würde, um das Gleichgewicht herzuſtellen. Wäre aber Oeſtreich einer deutſch- ruſſiſchen Coalition von Hauſe aus unterlegen, wäre durch einen klugen Friedensſchluß der drei Kaiſer unter ſich das gegneriſche Bündniß geſprengt oder auch nur durch eine Niederlage Oeſtreichs geſchwächt, ſo wäre das deutſch-ruſſiſche Uebergewicht entſcheidend.

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Zitationshilfe: Bismarck, Otto von: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2. Stuttgart, 1898, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bismarck_erinnerungen02_1898/88>, abgerufen am 24.11.2024.