Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen-u. Volksnatur.
die Wörter Volk und populus weisen eher auf das öffentliche Gemeinwesen (polis, res publica) hin.
Demgemäsz waren die Deutschen im Mittelalter zugleich eine Nation und ein Volk und in den letzten Jahrhunderten wohl eine grosze in vielerlei Staten und Länder, beziehungs- weise Völker zertheilte Nation, aber es gab kein deutsches Volk mehr. Heute ist das deutsche Volk wieder erstanden, aber auszerdem sind noch einzelne Theile der deutschen Nation Bestandtheile auszerdeutscher Völker und Staten. Ob- wohl das nationale Bewusztsein in unserer Zeit stärker ist, als in irgend einer früheren Periode, so decken sich auch heute noch die Begriffe Nation und Volk nirgends völlig. Der Umfang und die Grenzen beider sind nicht dieselben.
Die Nationen und die Völker sind Bildungen der Ge- schichte. Die Entstehung einer Nation volizieht sich lang- sam, durch einen psychologischen Procesz, welcher all- mählich in einer Masse Menschen eine unterscheidende Da- seinsform und Lebensgemeinschaft hervorbringt und in der erblichen Rasse befestigt. Niemals ist aus einer willkürlich zusammen gerotteten oder geworbenen Menge Menschen eine Nation entstanden. Auch die freie Willensübereinkunft und der gesellschaftliche Vertrag von vielen Individuen vermag nicht, eine Nation zu schaffen. Zu ihrer Bildung müssen die Erlebnisse und Schicksale von mehreren Generationen zu- sammen wirken, und sie hat erst dann Bestand gewonnen, wenn ihre Eigenart durch die Fortpflanzung der Familien und die Ueberlieferung der Cultur von Geschlecht zu Ge- schlecht erblich geworden ist.
Die Entstehung eines Volkes setzt einen politischen Procesz, eine Statenbildung voraus, und kann daher, am sichersten freilich auf nationaler Grundlage, auch rasch durch eine neue Organisation vollzogen werden.
Bei der Bildung der Nationen wirken durchweg mehrere Kräfte und Factoren zusammen, welche geeignet sind, die
Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen-u. Volksnatur.
die Wörter Volk und populus weisen eher auf das öffentliche Gemeinwesen (πόλις, res publica) hin.
Demgemäsz waren die Deutschen im Mittelalter zugleich eine Nation und ein Volk und in den letzten Jahrhunderten wohl eine grosze in vielerlei Staten und Länder, beziehungs- weise Völker zertheilte Nation, aber es gab kein deutsches Volk mehr. Heute ist das deutsche Volk wieder erstanden, aber auszerdem sind noch einzelne Theile der deutschen Nation Bestandtheile auszerdeutscher Völker und Staten. Ob- wohl das nationale Bewusztsein in unserer Zeit stärker ist, als in irgend einer früheren Periode, so decken sich auch heute noch die Begriffe Nation und Volk nirgends völlig. Der Umfang und die Grenzen beider sind nicht dieselben.
Die Nationen und die Völker sind Bildungen der Ge- schichte. Die Entstehung einer Nation volizieht sich lang- sam, durch einen psychologischen Procesz, welcher all- mählich in einer Masse Menschen eine unterscheidende Da- seinsform und Lebensgemeinschaft hervorbringt und in der erblichen Rasse befestigt. Niemals ist aus einer willkürlich zusammen gerotteten oder geworbenen Menge Menschen eine Nation entstanden. Auch die freie Willensübereinkunft und der gesellschaftliche Vertrag von vielen Individuen vermag nicht, eine Nation zu schaffen. Zu ihrer Bildung müssen die Erlebnisse und Schicksale von mehreren Generationen zu- sammen wirken, und sie hat erst dann Bestand gewonnen, wenn ihre Eigenart durch die Fortpflanzung der Familien und die Ueberlieferung der Cultur von Geschlecht zu Ge- schlecht erblich geworden ist.
Die Entstehung eines Volkes setzt einen politischen Procesz, eine Statenbildung voraus, und kann daher, am sichersten freilich auf nationaler Grundlage, auch rasch durch eine neue Organisation vollzogen werden.
Bei der Bildung der Nationen wirken durchweg mehrere Kräfte und Factoren zusammen, welche geeignet sind, die
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Zweites Buch. Die Grundbedingungen des Stats in d. Menschen-u. Volksnatur.
die Wörter Volk und populus weisen eher auf das öffentliche
Gemeinwesen (πόλις, res publica) hin.
Demgemäsz waren die Deutschen im Mittelalter zugleich
eine Nation und ein Volk und in den letzten Jahrhunderten
wohl eine grosze in vielerlei Staten und Länder, beziehungs-
weise Völker zertheilte Nation, aber es gab kein deutsches
Volk mehr. Heute ist das deutsche Volk wieder erstanden,
aber auszerdem sind noch einzelne Theile der deutschen
Nation Bestandtheile auszerdeutscher Völker und Staten. Ob-
wohl das nationale Bewusztsein in unserer Zeit stärker ist,
als in irgend einer früheren Periode, so decken sich auch
heute noch die Begriffe Nation und Volk nirgends völlig.
Der Umfang und die Grenzen beider sind nicht dieselben.
Die Nationen und die Völker sind Bildungen der Ge-
schichte. Die Entstehung einer Nation volizieht sich lang-
sam, durch einen psychologischen Procesz, welcher all-
mählich in einer Masse Menschen eine unterscheidende Da-
seinsform und Lebensgemeinschaft hervorbringt und in der
erblichen Rasse befestigt. Niemals ist aus einer willkürlich
zusammen gerotteten oder geworbenen Menge Menschen eine
Nation entstanden. Auch die freie Willensübereinkunft und
der gesellschaftliche Vertrag von vielen Individuen vermag
nicht, eine Nation zu schaffen. Zu ihrer Bildung müssen die
Erlebnisse und Schicksale von mehreren Generationen zu-
sammen wirken, und sie hat erst dann Bestand gewonnen,
wenn ihre Eigenart durch die Fortpflanzung der Familien
und die Ueberlieferung der Cultur von Geschlecht zu Ge-
schlecht erblich geworden ist.
Die Entstehung eines Volkes setzt einen politischen
Procesz, eine Statenbildung voraus, und kann daher, am
sichersten freilich auf nationaler Grundlage, auch rasch durch
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Bei der Bildung der Nationen wirken durchweg mehrere
Kräfte und Factoren zusammen, welche geeignet sind, die
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/110>, abgerufen am 26.11.2024.
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