Zweites Capitel. II. Die Begriffe Nation und Volk.
Massen durch gemeinsamen Geist, gemeinsame Interessen und gemeinsame Gewohnheiten zu verbinden und von andern, fremd gewordenen Massen abzutrennen und denselben ent- gegen zu setzen.
Die wichtigsten Motive sind:
a) die Religion. Der religiöse Glaube hat vorzüglich in dem alten Asien, aber auch während des Mittelalters in Europa so mächtig auf die ganze Denkart und Lebensweise der Massen eingewirkt, dasz die Religionsgenossen sich als Nationale wider die Andersgläubigen als Fremde abschloszen. Es ist wahrscheinlich, dasz die arischen Perser und die ari- schen Indier sich vorerst um des Glaubens willen von ein- ander getrennt haben und gewisz, dasz die Brahmanisten und die Buddhisten trotz ihrer gemeinsamen Wohnsitze, Sprache und Abstammung lediglich des Glaubens wegen sich als einander fremde Nationen bekämpften. So bewahrte die jüdische Nation ihre Eigenart nicht blosz in ihrem Vaterlande, Palästina, sondern zur Zeit der Babylonischen Knechtschaft, später im Römerreiche zu Alexandrien und in Rom und nach der Zer- störung des jüdischen Stats in der Zerstreuung unter fremde Nationen und Staten.
Aber es ist ein Kennzeichen unsrer Zeit, welche die religiöse Freiheit höher schätzt als die Glaubenseinheit, dasz heute die Religion nicht mehr diese starke Wirkung auf Neu- bildung und Trennung der Nationen übt. Vielmehr erweist sich die einigende und unterscheidende Macht der Nationalität, abgesehen von der Religion, heute stärker als die religiöse Gemeinschaft und Spaltung. Die Deutschen sind ihrer natio- nalen Genossenschaft bewuszt geworden, unbekümmert darum, ob sie Protestanten oder Katholiken, von mosaischem Glau- ben oder Pantheisten sind, und sie unterscheiden sich von fremden Nationen, obwohl viele von ihnen Religionsgenossen dieser sind.
b) Stärker als die Religion wirkt auf die Scheidung der
Zweites Capitel. II. Die Begriffe Nation und Volk.
Massen durch gemeinsamen Geist, gemeinsame Interessen und gemeinsame Gewohnheiten zu verbinden und von andern, fremd gewordenen Massen abzutrennen und denselben ent- gegen zu setzen.
Die wichtigsten Motive sind:
a) die Religion. Der religiöse Glaube hat vorzüglich in dem alten Asien, aber auch während des Mittelalters in Europa so mächtig auf die ganze Denkart und Lebensweise der Massen eingewirkt, dasz die Religionsgenossen sich als Nationale wider die Andersgläubigen als Fremde abschloszen. Es ist wahrscheinlich, dasz die arischen Perser und die ari- schen Indier sich vorerst um des Glaubens willen von ein- ander getrennt haben und gewisz, dasz die Brahmanisten und die Buddhisten trotz ihrer gemeinsamen Wohnsitze, Sprache und Abstammung lediglich des Glaubens wegen sich als einander fremde Nationen bekämpften. So bewahrte die jüdische Nation ihre Eigenart nicht blosz in ihrem Vaterlande, Palästina, sondern zur Zeit der Babylonischen Knechtschaft, später im Römerreiche zu Alexandrien und in Rom und nach der Zer- störung des jüdischen Stats in der Zerstreuung unter fremde Nationen und Staten.
Aber es ist ein Kennzeichen unsrer Zeit, welche die religiöse Freiheit höher schätzt als die Glaubenseinheit, dasz heute die Religion nicht mehr diese starke Wirkung auf Neu- bildung und Trennung der Nationen übt. Vielmehr erweist sich die einigende und unterscheidende Macht der Nationalität, abgesehen von der Religion, heute stärker als die religiöse Gemeinschaft und Spaltung. Die Deutschen sind ihrer natio- nalen Genossenschaft bewuszt geworden, unbekümmert darum, ob sie Protestanten oder Katholiken, von mosaischem Glau- ben oder Pantheisten sind, und sie unterscheiden sich von fremden Nationen, obwohl viele von ihnen Religionsgenossen dieser sind.
b) Stärker als die Religion wirkt auf die Scheidung der
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0111"n="93"/><fwplace="top"type="header">Zweites Capitel. II. Die Begriffe Nation und Volk.</fw><lb/>
Massen durch gemeinsamen Geist, gemeinsame Interessen und<lb/>
gemeinsame Gewohnheiten zu verbinden und von andern,<lb/>
fremd gewordenen Massen abzutrennen und denselben ent-<lb/>
gegen zu setzen.</p><lb/><p>Die wichtigsten Motive sind:</p><lb/><p>a) die <hirendition="#g">Religion</hi>. Der religiöse Glaube hat vorzüglich<lb/>
in dem alten Asien, aber auch während des Mittelalters in<lb/>
Europa so mächtig auf die ganze Denkart und Lebensweise<lb/>
der Massen eingewirkt, dasz die Religionsgenossen sich als<lb/>
Nationale wider die Andersgläubigen als Fremde abschloszen.<lb/>
Es ist wahrscheinlich, dasz die arischen Perser und die ari-<lb/>
schen Indier sich vorerst um des Glaubens willen von ein-<lb/>
ander getrennt haben und gewisz, dasz die Brahmanisten und<lb/>
die Buddhisten trotz ihrer gemeinsamen Wohnsitze, Sprache<lb/>
und Abstammung lediglich des Glaubens wegen sich als einander<lb/>
fremde Nationen bekämpften. So bewahrte die jüdische Nation<lb/>
ihre Eigenart nicht blosz in ihrem Vaterlande, Palästina,<lb/>
sondern zur Zeit der Babylonischen Knechtschaft, später im<lb/>
Römerreiche zu Alexandrien und in Rom und nach der Zer-<lb/>
störung des jüdischen Stats in der Zerstreuung unter fremde<lb/>
Nationen und Staten.</p><lb/><p>Aber es ist ein Kennzeichen unsrer Zeit, welche die<lb/>
religiöse Freiheit höher schätzt als die Glaubenseinheit, dasz<lb/>
heute die Religion nicht mehr diese starke Wirkung auf Neu-<lb/>
bildung und Trennung der Nationen übt. Vielmehr erweist<lb/>
sich die einigende und unterscheidende Macht der Nationalität,<lb/>
abgesehen von der Religion, heute stärker als die religiöse<lb/>
Gemeinschaft und Spaltung. Die Deutschen sind ihrer natio-<lb/>
nalen Genossenschaft bewuszt geworden, unbekümmert darum,<lb/>
ob sie Protestanten oder Katholiken, von mosaischem Glau-<lb/>
ben oder Pantheisten sind, und sie unterscheiden sich von<lb/>
fremden Nationen, obwohl viele von ihnen Religionsgenossen<lb/>
dieser sind.</p><lb/><p>b) Stärker als die Religion wirkt auf die Scheidung der<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[93/0111]
Zweites Capitel. II. Die Begriffe Nation und Volk.
Massen durch gemeinsamen Geist, gemeinsame Interessen und
gemeinsame Gewohnheiten zu verbinden und von andern,
fremd gewordenen Massen abzutrennen und denselben ent-
gegen zu setzen.
Die wichtigsten Motive sind:
a) die Religion. Der religiöse Glaube hat vorzüglich
in dem alten Asien, aber auch während des Mittelalters in
Europa so mächtig auf die ganze Denkart und Lebensweise
der Massen eingewirkt, dasz die Religionsgenossen sich als
Nationale wider die Andersgläubigen als Fremde abschloszen.
Es ist wahrscheinlich, dasz die arischen Perser und die ari-
schen Indier sich vorerst um des Glaubens willen von ein-
ander getrennt haben und gewisz, dasz die Brahmanisten und
die Buddhisten trotz ihrer gemeinsamen Wohnsitze, Sprache
und Abstammung lediglich des Glaubens wegen sich als einander
fremde Nationen bekämpften. So bewahrte die jüdische Nation
ihre Eigenart nicht blosz in ihrem Vaterlande, Palästina,
sondern zur Zeit der Babylonischen Knechtschaft, später im
Römerreiche zu Alexandrien und in Rom und nach der Zer-
störung des jüdischen Stats in der Zerstreuung unter fremde
Nationen und Staten.
Aber es ist ein Kennzeichen unsrer Zeit, welche die
religiöse Freiheit höher schätzt als die Glaubenseinheit, dasz
heute die Religion nicht mehr diese starke Wirkung auf Neu-
bildung und Trennung der Nationen übt. Vielmehr erweist
sich die einigende und unterscheidende Macht der Nationalität,
abgesehen von der Religion, heute stärker als die religiöse
Gemeinschaft und Spaltung. Die Deutschen sind ihrer natio-
nalen Genossenschaft bewuszt geworden, unbekümmert darum,
ob sie Protestanten oder Katholiken, von mosaischem Glau-
ben oder Pantheisten sind, und sie unterscheiden sich von
fremden Nationen, obwohl viele von ihnen Religionsgenossen
dieser sind.
b) Stärker als die Religion wirkt auf die Scheidung der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/111>, abgerufen am 26.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.